E.T.A. Hoffmann zum 200. Todestag
Mit einem Hans Mayer gewidmetem Essay würdigt dessen US-Amerikanischer Übersetzer, Professor em. Jack Zipes, den Erzähler E.T.A. Hoffmann zum 200. Todestag am 25. Juni.
1958 hatte Hans Mayer im Aufbau-Verlag Berlin (Ost) das poetische Werk Hoffmanns in sechs Bänden herausgegeben. Im Vorwort dazu analysiert Mayer „Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmans. Er stellt fest: „Die erste Hoffmann-Erzählung (Ritter Gluck, HB) enthüllt bereits, daß Hoffmanns Wirklichkeitsauffassung der Eindeutigkeit entbehrt. Hier sind offenbar zwei Wirklichkeiten ineinandergeschachtelt“.[1] Und etwas später: „Die Zweiteilung der Wirklichkeit als Dualität gegensätzlicher Raum- und Zeitaufstellungen durchzieht gerade die wichtigsten Werke Hoffmanns.“[2]
In dem Essay den Zipes zur Einleitung von fünf Erzählungen Hoffmanns geschrieben hat, bezieht er sich auf Traumata in der kindlichen Entwicklung und schildert dieses Problem in Reflektion der tragischen Kindheit die Hoffmann erlebt hat. Dabei geht es ihm auch um Vergangenheitsbewältigung.
Nachfolgend einige Ausführung Jack Zipes. Der gesamte Text der Einleitung „E. T. A. Hoffmann, der verwundete Geschichtenerzähler und seine traumatischen Erzählungen“ steht als Download (s.u.) zur Verfügung.
„Die Vergangenheit braucht nicht zu schweigen. Sie will sprechen und aktiv sein. Wir versuchen, die Vergangenheit wegen der Wunden, die wir erlitten haben, zu verdrängen. Die einzige Möglichkeit, die Vergangenheit nicht mehr zu verdrängen, besteht darin, sie mit Geschichten zu konfrontieren. Das ist das große Verdienst von E. T. A. Hoffmann.
Es gibt viele deutsche Volks- und Märchenschriftsteller aus der Vergangenheit, nicht nur die Brüder Grimm, die bedeutend waren und sind, weil sie begnadete “Zauberer” waren, die es verstanden, durch die Kraft und den Stil ihrer außergewöhnlichen Schreibweise die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Manchmal, wie bei Hermann Hesse, haben ihre Märchen ihren Reiz verloren, weil die Konflikte, die sie schildern, uns nicht mehr betreffen oder berühren. Die Erzählungen verblassen und werden zu schönen Erinnerungen an eine Zeit, die einmal war. Ihre einst populären Werke rufen nicht mehr nach uns, und wir kehren zu ihnen zurück, um vor allem die Nostalgie zu befriedigen.
Das ist bei E. T. A. Hoffmann und seinen Werken ganz und gar nicht der Fall. Seine Märchen wurden als krank, seltsam, wunderbar, eigenartig, befremdend, schrecklich, dunkel, sinnlos, verstörend und erschreckend bezeichnet. Niemals erhellend. Dennoch haben sich Schriftsteller, Musiker, Dramatiker, Künstler und Filmemacher von ihnen angezogen gefühlt und sie für die Bühne und die Leinwand adaptiert, weil sie in den Märchen etwas Lebendiges gefunden haben, das Hoffmann mit der Welt teilen wollte. Manchmal sind sie nahe dran, die verstörenden Elemente von Hoffmanns Werken zu erfassen, weil sie wie er gelitten haben. Sie haben sogar versucht, sie für Kinder annehmbar zu machen, aber die Geschichten sind zu komplex und schockierend, es sei denn, man ist Maurice Sendak und dafür bekannt, verwundet und subversiv zu sein, wie Hoffmann es war. Aber auch hier war Sendak nur ein Künstler unter vielen bedeutenden Schriftstellern und Dichtern, die von Hoffmann beeinflusst wurden, wie Tochetti, Edgar Allen Poe, Charles Baudelaire, Nikolai Gogol, Charles Dickens und zahlreiche andere, die die umwerfenden, phantasievollen Werke Hoffmanns nicht übertreffen konnten. In der Tat sollte die Krankheit seiner Erzählungen Hoffmann und seinen Lesern helfen. Die Essenz von Hoffmanns Erzählungen ist zumeist so persönlich, dass niemand Hoffmanns herzergreifende Krankheit wirklich verstanden hat und vielleicht auch nie verstehen wird. …
Es ist klar, dass Hoffmann ein Leben lang Opfer und Heiler von Traumata war, und durch sein Erzählen, sei es durch das Schreiben von Geschichten, das Zeichnen von Skizzen, das Komponieren von Musik und das Knüpfen von Freundschaften in seinem Serapion-Club, wurde er zu einem Heiler – einem Heiler derjenigen, die bereit waren, seine ergreifenden Geschichten zu hören und zu lesen. Hoffmann hat sich nicht auf ein bestimmtes Publikum oder eine bestimmte Gruppe von Lesern konzentriert. Angesichts seiner eigenen Interessen und der Förderung eines gegenkulturellen Denk- und Lebensansatzes vertrat Hoffmann jedoch eine Position, die seine Unzufriedenheit mit dem zivilisatorischen Prozess seiner Zeit zum Ausdruck brachte und die bis in unsere Zeit hineinreicht.
Hoffmanns unglückliche Kindheit begleitete ihn fast sein ganzes Leben lang, und anstatt sich der Misshandlung zu ergeben, verwandelte er die meisten dieser Störungen durch das Erzählen von Geschichten in Kunst. Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum seine Erzählungen immer noch eine starke Wirkung haben. Wenn Hoffmann heute von Bedeutung ist – und das ist er zweifellos -, dann deshalb, weil ihn die Art und Weise, wie Erwachsene Kinder misshandeln, sehr beunruhigt hat und weiterhin beunruhigt. Meiner Meinung nach ist diese Besorgnis die Grundlage dafür, dass er heute Leser auf der ganzen Welt anspricht, denn wir leben in einer Zeit, in der Kinder wie schweigsame Figuren in einem Schachspiel behandelt werden…
Bevor ich darauf eingehe, wie sehr das Trauma in den fünf Erzählungen des vorliegenden Bandes eine Rolle spielt, möchte ich kurz auf einige der großen traumatischen Ereignisse in Hoffmanns Leben eingehen, um zu zeigen, dass sein Schreiben eine Form der Auseinandersetzung mit Kindlichkeit und Trauma angenommen hat. Darüber hinaus möchte ich argumentieren, dass wir von seinem “traumatischen” Schreiben angezogen werden, weil wir alle eine Art von ähnlichem Missbrauch erlebt haben. In der Tat kann niemand in zivilisatorischen Prozessen, die Gehorsam und Loyalität gegenüber willkürlichen Gesetzen und Traditionen fordern und erzwingen, Traumata vermeiden. Wir alle werden geboren, um von unseren Eltern und der Gesellschaft gepflegt zu werden, und diese Pflege kann uns zu Automaten formen oder uns krank machen, was Hoffmann in der Geschichte über das Sandmännchen zu enthüllen suchte. Noch drastischer ist jedoch, dass er aufdeckt, wie grausam und missbräuchlich die “normalen” und zufriedenen Erzieher und Politiker unserer Institutionen sind. Die meisten der jungen Menschen in Hoffmanns Werken wünschen und erträumen sich eine traumhafte Zukunft, ein künstliches Paradies, aber ihre Zukunft wird von banalen gesellschaftspolitischen Erwartungen und Forderungen diktiert, die sie in den Wahnsinn treiben. Obwohl Hoffmann Mitglied der herrschenden Klasse in Berlin wurde, war er in dieser Position nie glücklich und versuchte noch bei seinem Tod, die Ungerechtigkeiten aufzudecken, die junge Menschen ertragen mussten. …
In den fünf hier vorgestellten Erzählungen werden einige der Protagonisten auf tragische Weise von ihren Traumata überwältigt, während andere wieder zu sich selbst finden und ihr Glück finden. Allerdings können wir nicht sicher sein, dass dieses Glück von Dauer ist in einer Gesellschaft, in der es normal ist, junge Menschen zu missbrauchen und sie zu zwingen, die strengen Gesetze eines rigiden Zivilisationsprozesses zu befolgen. Die phantastischen Konflikte in allen fünf Erzählungen spiegeln Hoffmanns Sorge um die jungen Menschen wider und zeigen, dass der Widerstand gegen das, was als normal und anständig gilt, der Schlüssel zum Überleben ist.“
Wir danken Prof. em Jack Zipes ganz herzlich für seinen Hans Mayer gewidmeten Essay und freuen uns, dass er mit seiner Einleitung zu den fünf Texten einen neuen, spannenden Blick auf den vor 200 Jahren verstorbenen Erzähler E.T.A. Hoffmann richtet.
(Übersetzung des Textes Heinrich Bleicher)
[1] E.T.A. Hoffmann, Poetische Werke, Erster Band, Berlin 1958, Vorwort Hans Mayer, S. VIII
[2] A.a.O., S. X