Zum 114. Geburtstag von Hans Mayer am 19. März 2021
Im Kreis der Freunde der Blochschen Philosophie hielt sich in Tübingen lange Jahre eine humorvoll-tiefgründige Anekdote, die sich im Weitererzählen immer wieder wandelte. Mal trug sie sich Mitte der sechziger Jahre zu, dann wieder ein Jahrzehnt später, mal waren die Beteiligten zu Fuß unterwegs, mal im Auto. Doch immer ging es um Hans Mayer und Walter Jens. Der Überlieferung nach waren beide auf dem Weg zur Wohnung von Ernst und Karola Bloch. Der Pfeife rauchende Philosoph mit den weißen Haaren hatte eingeladen. Da habe – so ging es von Mund zu Mund – kurz vor der Ankunft an der Wohnung Walter Jens zu Hans Mayer gesagt: „Karola ist heute auch da.“ Dieser nüchternen Botschaft setzte Hans Mayer erschrocken entgegen: „Da kommen wir ja wieder nicht zu Wort.“ Mayers vermeintlicher Schrecken gründete dabei explizit nicht in einem oberflächlichen Vorwurf, dass da eine Frau zu viel redete. Nein, es war eher die geringe Anzahl der Worte jener selbstbewussten Architektin, der es immer wieder gelang, kurzen Bemerkungen eine ungewöhnliche Schärfe beizugeben. Sie hatte es gelernt, sich im Beruf als Frau durchzusetzen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und konnte sehr direkt sein. Diese Schärfe war es, die die beiden geladenen Gäste so fürchteten.
Mit Hans Mayer verband Karola Bloch eine besondere, sich immer wieder anfeuernde und danach entspannende persönlich-politische Freundschaft. Beide waren sich in ihren Leipziger Zeiten begegnet, als es noch Hoffnungen auf ein anderes, besseres Deutschland gab. Sie schätzten sich und kritisierten den politischen Kurs sowie die mangelnde Sachkompetenz der SED-Führung. Als die Blochs 1961 nach dem Mauerbau von einem Aufenthalt in Bayreuth nicht mehr nach Leipzig[1] zurückkehrten, war Mayer entsetzt und in tiefem Maße enttäuscht. Die Freundschaft war plötzlich zerrissen. Mayer wollte seine Opposition vor allem innerhalb der DDR fortsetzen und solidarisierte sich mit dem von der SED hart bedrängten Bloch-Assistenten Jürgen Teller. In einem Brief schrieb Teller an die Blochs, wie der „Literaturfreund“ – gemeint war Hans Mayer – sich für ihn stark machte.[2] Doch schon zwei Jahre später gab Mayer auf und wechselte in die BRD. Die Mischung aus Enttäuschung und der erlittenen Einsicht, doch dem Blochschen Weg gefolgt zu sein, beeinträchtigten das Verhältnis zwischen ihm und Karola Bloch.
In den sechziger Jahren setzte sich die engagierte BRD-Kritikerin für Hans Mayer ein und verschaffte ihm Zugang zu weiteren Verlags- und Buchhandelsaktivitäten. Zu einem bitteren Bruch kam es nach dem Tode von Ernst Bloch am 4. August 1977. Karola Bloch entschied, dass bei der Trauerfeier Helmut Fahrenbach, Walter Jens, Oskar Negt, Rudi Dutschke und Peter Huchel sprechen sollten, nicht aber Hans Mayer. Mayer war tief verletzt und zog sich zurück. Das Verhältnis zwischen beiden kühlte stark ab. In einem heimlichen Brief an Jürgen Teller in Leipzig schrieb sie noch 1987: „Zum großen Verdruss von Hans Mayer, der so erzürnte, dass er den Verkehr mit mir und Jensens abbrach. Aber das habe ich überwunden. So klug H. M. ist, so unerfreulich ist er charakterlich.“[3]
So spitz Karola Bloch in ihrer Wortwahl manchmal war, so sehr konnte sie mit großer Herzlichkeit auf jemand zugehen. Sie brach das Eis zu Hans Mayer, in dem sie ihm mit einer besonderen Geste entgegen kam. Sie hatte als Architektin ihren Beruf aufgegeben, als die Blochs 1961 nach Tübingen wechselten. Nur einmal noch nahm sie ihre berufliche Tätigkeit auf: Sie bot Hans Mayer, nach dessen Umzug in die Neckarstadt, an, ihm mit dem Blick einer dem Bauhaus verbundenen Architektin sein neues Zuhause in Tübingen einzurichten. Das Eis schmolz dahin. Als weitere Geste hatte sich Karola Bloch, dafür ausgesprochen, Hans Mayer den Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen zu verleihen. Zur Preisverleihung an ihn im Jahr 1988 reiste sie persönlich an. Der Schlusssatz seiner Dankesrede, mit der er den Ernst-Bloch-Preis entgegen nahm, lautete in Mayerscher Klarheit: „Karola, wir danken Dir für dein Leben mit Ernst Bloch.“[4]
Als schließlich Hans Mayer Karola Bloch zu ihrem 84. Geburtstag am 22. Januar 1989 persönlich in ihrer Wohnung gratulierte, war die Freundschaft endgültig wieder hergestellt. Das Gespräch zwischen beiden an diesem Tag verlief allerdings etwas einseitig. Mit Leidenschaft erzählte Hans Mayer von seinen Büchern, Aufsätzen, Reden und Auftritten. Karola Bloch hörte ihm gelassen und lächelnd zu. Sie kam gar nicht zu Wort. Sie wollte ihn aber auch gar nicht unterbrechen, denn sie genoss es, dass er ihr und Julie Gastl[5] sowie mehreren anderen Gäste so große Aufmerksamkeit schenkte.
Als Karola Bloch am 31. Juli 1994 starb griff Hans Mayer seinerseits zu einer außerordentlichen Geste. Nach seiner Abschied nehmenden Rede neben dem Sarg der Toten, in der er auch Kritik nicht aussparte, ging er einige Schritte vor den Sarg, verharrte mehrere Momente still und verbeugte sich tief. Eine große Würdigung. Auf keine andere Weise hätte er Karola Bloch jenen Respekt erweisen können, den er ihr trotz aller vergangener Turbulenzen bezeugte. Hans Mayer verneigte sich vor einer Frau, die ihm solidarisch eng verbunden geblieben war.
Welf Schröter, März 2021
[1] Welf Schröter: „Sonst ist es fein still auf dem schneebedeckten Brachland Pachulkistans“ – Widerstehen durch die Mauer hindurch. Der deutsch-deutsche Briefwechsel von Johanna & Jürgen Teller (Leipzig) mit Ernst & Karola Bloch (Tübingen). Zum 20. Todestag von Jürgen Teller. In: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Michael Walter, Claudia Wörmann-Adam (Hg.): „Widerstand ist nichts als Hoffnung“. Widerständigkeit für Freiheit, Menschenrechte, Humanität und Frieden. Mössingen 2021,
S. 301–317.
[2] Brief von Jürgen Teller aus dem Januar 1963. In: Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Briefe durch die Mauer. Briefwechsel (1954 – 1998) zwischen Ernst & Karola Bloch und Jürgen & Johanna Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2009, S. 64.
[3] Brief Karola Blochs an Jürgen und Johanna Teller vom 19.6.1987. In: Irene Scherer, Welf Schröter (Hg.): Etwas, das in die Phantasie greift.“ Briefe von Karola Bloch an Siegfried Unseld und Jürgen Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2015,
S. 312.
[4] Hans Mayer: Ernst Bloch in der Geschichte. Für Karola Bloch. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch. Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden. Reden und Schriften. Talheimer Verlag, Mössingen 1989, S. 155.
[5] Die Buchhändlerin Julie Gastl (1908-1999) gehörte zum Freundeskreis von Ernst und Karola Bloch in Tübingen. Sie ermöglichte das Verbleiben der Blochs in Tübingen 1961 maßgeblich.