Mit großer Freude veröffentlichen wir zum 165. Todestag Heinrich Heines am
17. Februar einen Beitrag von Prof. em. Leo Kreutzer. Er war Assistent und Nachfolger von Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für neuere und neueste deutsche Literatur der Universität Hannover.
Wie aus Heinrich Heine ‚mein afrikanischer Heine‘ wurde und ich ihn nicht länger mit Hans Mayer als Schriftsteller ‚ganz ohne Tradition‘ las
Von Heinrich Heine habe ich in meinem Leseleben zwei Mal (fast) alles gelesen. Aus einer ersten Lektüre entstand 1970 Heine und der Kommunismus.[1] Mit dieser Studie habe ich seinerzeit in aller Kürze dargelegt, dass Heine, wenn er am Ende seines Lebens von ‚Kommunismus‘ spricht und bekundet, dass er ihn fürchte, das kunst- und wissenschaftsfeindliche Programm des Neo-Babouvismus meine, einer ‚frühsozialistischen‘ Bewegung, die in den 1830er und 1840er Jahren an die ‚Verschwörung der Gleichen‘ des nach dem Sturz Robespierres 1797 hingerichteten Gracchus Babeuf anknüpfte. Von ihren Bestrebungen und Zielen hatte Heine Kenntnis erlangt, als er, nach seiner Übersiedelung nach Paris, als Korrespondent der ‚Augsburger Allgemeinen Zeitung‘ auch die Pariser Arbeiter-Vorstädte erkundete.
Seit den frühen 1980er Jahren regelmäßig Gast an Universitäten im subsaharischen Afrika, begann ich mich im Zuge einer Beschäftigung mit afrikanischen Literaturen mit einer gesellschaftlichen und kulturellen Oralität vertraut zu machen. Als ich dann für ein Buch zu seinem 200. Geburtstag noch einmal (fast) alles von Heine las, blieb ich zu meinem nicht geringen Erstaunen auf Schritt und Tritt an Spuren einer erlebten und erinnerten ‚volkspoetischen‘ Oralität hängen, über die ich bei meiner ersten Lektüre hinweggelesen hatte. Das erklärte sich mir dadurch, dass Hans Mayer in einem für mich seinerzeit kanonischen Essay eine „Ausnahmestellung“ Heines damit begründet hatte, dieser sei „als Schriftsteller, vor allem am Beginn seiner Laufbahn, ganz ohne Tradition“ gewesen; die ‚Geister der Vergangenheit‘ einer ‘Volkspoesie’ gehörten für Hans Mayer nicht zur Tradition einer bürgerlichen Literatur in Deutschland von Lessing bis Thomas Mann.[2]
Aber nun diese durch Erfahrungen mit afrikanischen Gegebenheiten und Literaturen veränderte Wahrnehmung: Von Beginn an und dann lebenslang stellt Heine sich gern als jemand dar, der sich in seiner Jugend in verschiedenen Milieus einer vielgestaltigen mündlichen Überlieferung herumgetrieben und es verstanden habe, ihren Hüterinnen ‚die Zunge zu lösen‘: älteren Frauen, Ammen, die ihm Volksmärchen erzählt, und jungen Mädchen, die für ihn Volkslieder gesungen hätten. Märchen und Lieder „aus alten Zeiten“ kommen ihm seither „nicht aus dem Sinn“.
Als ich Heine beim Wiederlesen im Lichte afrikanischer Gegebenheiten und Literaturen und damit gleichsam ‚doppeltblickend‘ las, fiel mir aber noch etwas anderes auf. Einen ähnlichen Zauber wie eine volkspoetisch-mündliche Überlieferung hat nach Heines eigenem Bekunden auf den Düsseldorfer Pennäler das Trommeln des den napoleonischen Truppen voranschreitenden ‚Tambourmajors‘ ausgeübt. Wenn er im Buch Le Grand schildert, wie der Düsseldorfer Hofgarten für ihn zur ‘Schule’ des Tambourmajors Le Grand wurde, dann inszeniert Heine sich als dessen Schüler gerade so wie bei seinen Erinnerungen an seine ästhetische Erziehung durch volkspoetische Erzählungen und Lieder. „Ich spreche“, so Heine 1826 in seinem ‘Reisebild’ Ideen. Das Buch Le Grand, „vom Hofgarten zu Düsseldorf, wo ich oft auf dem Rasen lag, und andächtig zuhörte, wenn mir Monsieur Le Grand von den Kriegstaten des großen Kaisers erzählte, und dabei die Märsche schlug, die während jener Taten getrommelt worden, so daß ich alles lebendig sah und hörte.“[3]
In der Art und Weise, wie Heine sich als Zuhörer des Tambourmajors Le Grand porträtiert, verbinden sich seine Wertschätzung der deutschen Volkspoesie und sein durch Errungenschaften der Französischen Revolution geprägtes Verständnis von politischer Agitation. Vereinbar, sowohl politisch als auch ‚interkulturell‘, sind sie für ihn, weil er an einer deutschen Volkspoesie nicht aus ‚Deutschtümelei‘ festhält und ihr, anders als ein von ihm in Vielem geteiltes ‚progressives Denken‘ seiner Zeit, ein subversives Potential zuschreibt. Aber ihre – wie der sagenumwobene Kaiser Rotbart im Kyffhäuser – schlafende Widersetzlichkeit entspricht nicht mehr einem Politik-Verständnis, wie es für Heine seit der Französischen Revolution unhintergehbar ist. So muss die volkspoetische Überlieferung im Sinne einer neuen Vorstellung von politisch wirksamer Poesie modernisiert werden. Heine bewerkstelligt das, indem er volkspoetische Überlieferung und politische Agitation durch eine Poetik des Trommelns miteinander verbindet.
Was einen ‚guten Tambour‘ ausmache und dass er ein solcher sei, das hat Heine mit seinem Gedicht Doktrin[4] demonstriert. Bei dem 3strophigen ‚Zeitgedicht‘ aus dem Jahre 1844 handelt es sich um ein poetisches Manifest der Modernisierung der volkspoetischen Tradition durch ein zeitgenössisches Denken. Zur Schule eines furchtlosen Trommelschlagens im Sinne einer ‚Poetik des Trommelns‘ erklärt es die Bücher und die Wissenschaft, und dabei hebt es ausdrücklich die jüngste philosophische Schule hervor. Dass das im Volksliedton geschieht, wird im letzten ‚Caput‘ des etwa gleichzeitig entstandenen Versepos Atta Troll so begründet: Er, Heinrich Heine, lasse „moderne Triller gaukeln durch den alten Grundton“.[5]
Leo Kreutzer
Doktrin
Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.
Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab´ sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.
[1] Leo Kreutzer, Heinrich Heine und der Kommunismus, Göttingen 1970
[2] Hans Mayer: Die Ausnahme Heinrich Heine, in ders.: Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland. Pfullingen 1959. S. 273-296, das Zitat S. 275 („ganz ohne Tradition“ i. O. kursiv); vgl. Leo Kreutzer: Träumen Tanzen Trommeln. Heinrich Heines Zukunft. Frankfurt a.M. 1997
[3] Heinrich Heine: Ideen. Das Buch Le Grand, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 3: Schriften 1822-1831. München Wien 1976, S. 245-308, das Zitat S. 274. Aber die Trommel des napoleonischen Tambourmajors ‘spricht’ nicht nur, dessen Trommeln vermittelt seinem jugendlichen Zuhörer nicht weniger als den ‘Geist’ der (französischen) Sprache, insbesondere solcher Wörter wie ‚liberté‘ und ‚égalité‘: „Man muß den Geist der Sprache kennen, und diesen lernt man am besten durch Trommeln.“ (ebd. S. 270f.)
[4] Heinrich Heine: Zeitgedichte, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 7: Schriften 1837-1844. München Wien 1976, S.412
[5] Heinrich Heine: AttaTroll, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 7: Schriften 1837-1844. München Wien 1976, S. 570