Die Revue Germanique Internationale hat ihre Ausgabe 33/2021 unter der Leitung von Bénédicte Terrisse und Clément Fradin anlässlich seines 20. Todestages Hans Mayer gewidmet, um “die Bedeutung eines der großen deutschen Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für uns heute, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, zu bedenken.”
Hans Mayer (1907-2001) der zunächst 1948 einen Lehrstuhl in Leipzig und ab 1965 in Hannover hatte, habe, so die Herausgeber, “nie aufgehört, seinen stets behaupteten, aber heterodoxen Marxismus mit den Klassikern der deutschen Literatur ebenso zu konfrontieren wie mit den großen Autoren seiner Zeit, mit denen er auch verbunden war, von Bertolt Brecht bis Thomas Mann, über Paul Celan.” Mit ihrem Heft möchten sie zwei Perspektiven aufzeigen, die für Hans Mayer so charakteristisch waren. Zum einen geht es um den aus Köln stammenden jüdischen Intellektuellen Mayer dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Er ging 1933 ins Exil und hatte an der Geschichte der Intellektuellen inmitten der ideologischen Gegensätze einen erheblichen Anteil. Zum anderen steht Mayer für “die Genese, Entwicklung und Grenzen der Methode dieses vom Marxismus und Hegelianismus genährten, zwischen der Kritischen Theorie, den theoretischen Reflexionen Bertolt Brechts oder der Philosophie Ernst Blochs angesiedelten Literaturhistorikers […], indem sie mit seiner Lektüre der großen Autoren der Moderne (Kafka, Hofmannsthal), seinem Verhältnis zum Judentum, seiner Praxis und seinen Vorstellungen von zeitgenössischer Literatur konfrontiert wird.”
Clément Fradin und Bénédicte Terrisse erläutern in ihrer Einleitung die Bedeutung Mayers als Professor und Literaturkritiker: “Er war vor allem einer der großen deutschen Literaturkritiker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch ein Musikwissenschaftler, dem es immer darum ging, ästhetische Phänomene in einer Analyse ihrer historischen Möglichkeitsbedingungen zu verankern.” Ihre Einleitung verrät sehr präzise Kenntnisse seines Werkes, aus der die beiden Autoren die Notwendigkeit und ihr Anliegen ableiten, sein Werk heute wieder einem wissenschaftlichen Publikum erneut zu präsentieren. Nach der Vorstellung wichtiger Stationen der Entwicklung seines Werkes kommen sie zu bemerkenswerten Beurteilungen: “In vielerlei Hinsicht schien Mayer mit seiner Zeit und den Orten, an denen er arbeitete, nicht Schritt halten zu können. In der DDR ein Heterodoxer, der die Einzigartigkeit der Werke und die Grenzen der Realismus-Doktrin betonte und eher die Ästhetik als das Dogma hervorhob, galt er im Westen, auch nach der Wende, als Marxist – was er nur bedingt war.” Und sie versichern ihren Lesern und versprechen damit nicht zu viel: “Mayers Texte können auch Perspektiven für eine transnationale Genealogie der germanistischen Methoden eröffnen.”
Es folgen drei Teile: “I. Stations historiques de Hans Mayer”. In Georg Büchner und seine Zeit hatte Mayer die studentischen Geheimbünde der deutschen Freiheitsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts untersucht. Baumann zeigt hier, wie “Geheimgesellschaften skizziert werden, auf die Mayer kritisch Bezug nimmt.” Und wie er “vermittels einer historischen Miniatur den Diskurs über die angeblich notwendige, Re-Mythisierung der Gesellschaft’ zur Bekämpfung des Nazismus ad absurdum führt.”
Artikel von Helmut Peitsch über Mayers Lukács-Lektüre und Sarah Kiani über Mayers Jahre in der DDR ergänzen den ersten Teil. Der 2. Teil untersucht unter der Überschrift Identité et affinités den Werdegang Mayers im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Methode: Marielle Silhouette berichtet über die Begegnung von Hans Mayer und Bertolt Brecht, Norbert Waszek untersucht Mayers Verhältnis zu Ernst Bloch und Hans-Joachim Hahn wendet sich seinem Judentum zu.
Im 3. Teil wird Hans Mayer als Leser vorgestellt, seine große Passion, die durch die Bibliographie seines umfangreichen Werkes so gut illustriert wird: Clément Fradin erinnert an Mayers Kleist-Lektüre und es gelingt ihm so, an einem Beispiel Mayers literaturkritische Methode auf eine interessante Weise zu demonstrieren. Nach dieser Lektüre wird man den hier abgedruckten Text von Hans Mayer, > Heinrich von Kleist. L’instant historique lesen und Kleist wiederlesen!
Michael Woll berichtet über die Texte Mayers zu Hofmannsthal. Solange Lucas erinnert an die Texte Mayers über Kafka.
Bénédicte Terrisse untersucht grundsätzliche Fragen von Mayers Literaturkritik: Die Literatur war seine Leidenschaft, sie half ihm dabei im Osten und dann im Westen seine Karriere zu verfolgen. Terrisse untersucht den Begriff des “Zeitgenossen” in Mayers Texten. Seine Idee der “‘Zeitgenossenschaft’” erscheint im Kontext seiner Hegel-Rezeption als selbstreflexive Seite seines Denkens der Literaturgeschichte.” Terrisse vergleicht Mayers Werke mit dem Ansatz von Walter Höllerer und geht auf die Verbindungen Mayers zur Gruppe 47 ein. In diesem Zusammenhang betont Terrisse die “Dauerhaftigkeit” von Literatur, die sie in Mayers Literaturkritik wie einen roter Faden erkennt.
Heiner Wittmann