Erkennen, Denken und Verstehen

Friedrich Dürrenmatt zum 100.

In einer kleinen Stadt, deren Namen nicht Güllen ist, hob sich am Donnerstag dem 19. Dezember 1968 der Vorhang in der Aula des Gymnasiums zu einem der frühesten Stücke Friedrich Dürrenmatts: »Romulus der Große«. Die Uraufführung hatte am 25. April 1949 im Stadttheater Basel stattgefunden und im Oktober folgte dann schon die nächste Inszenierung in Göttingen. In den knapp 20 Jahren danach hatte sich politische Entwicklung Europas entscheidend verändert, aber das Thema Frieden und die Konflikte einer vom Kapital bestimmten Gesellschaft hatten ihre Bedeutung behalten. Die Laienspielerinnen und -spieler der Schule in H. waren nicht nur von Dürrenmatt aufgeweckt worden. Der Darsteller des Romulus reckte als Schulsprecher die schwarzbehandschuhte Faust beim Thema Vietnamkrieg und Dylans »Blowing in the wind« war die Begleitmusik zu weiteren Protesten.

Im Jubiläumsband der Schule heißt es zu dieser Zeit in einem Beitrag des Sportlehrers: „Jetzt wurde der Unterricht bewußt durch Fragen nach dem Sinn jeder Aufgabe gestört…Gott sei Dank lief die Welle nach wenigen Jahren aus. Was blieb, war eine allgemeine Verunsicherung und manche Zweifel an der Berechtigung von Teilen des Lehrplanes.“ Was zum Glück auch erhalten blieb war das Weiterleben der Theatergruppe mit neuen Schülerinnen und Schülern. 1985 gab es »Die Physiker« und 1994 wieder »Romulus den Großen«.

Wenn heute – zu seinem 100. Geburtstag – in zahlreichen Medien-Beiträgen an Dürrenmatt erinnert wird, wird in aller Regel meist »Der Besuch der alten Dame«, »Die Physiker« sowie die Kriminalromane »Der Richter und sein Henker« (1950), »Der Verdacht« (1951) und »Das Versprechen« (1958) hervorgehoben.

Dürrenmatt hätte eine Neubewertung und Aufführung seiner Komödien verdient. Solche wie die wohl glänzende Theateraufführung von „Romulus dem Großen“ am Deutschen National Theater in Weimar.[1] Kurz gefasst der Inhalt laut Klappentext: »Kaiser Romulus Augustus hält das römische Weltreich für unmoralisch und will es als >Richter Roms< liquidieren, indem er 467 n. Chr. tatenlos die einmarschierenden Germanen erwartet. Germanenfürst Odoaker freilich, ein leidenschaftlicher Hühnerzüchter wie Romulus, hat keinen sehnlicheren Wunsch als sich zu unterwerfen, um zu verhindern, daß die Germanen >endgültig ein Volk der Helden< werden.« Konterkarierend könnte man sich eine Inszenierung vorstellen, die den Untergang des Imperiums USA unter dem noch amtierenden Präsidenten zum Thema hätte.

Weitgehend unterbelichtet in den bisherigen Würdigungen zum 100. Geburtstag ist – was keine Minderung der Theaterstücke beinhalten soll – der politische Dürrenmatt. In seinen „Gedenkworten“ auf Dürrenmatt stellt Hans Mayer am
6. Januar 1991 im Schauspielhaus Zürich fest: „Dürrenmatt ist Philosoph, was bei ihm stets auch geheißen hat: ein Theologe jenseits der Theologie. […] Dieser scheinbare Verächter der Geschichte, der die historischen Puppen tanzen läßt in der Komödie »Achterloo«, kam nicht los von der Geschichtsphilosophie. Der Politiker Dürrenmatt kann nur von dieser Antinomie her verstanden werden. Er meinte stets weit mehr als den unmittelbaren Anlaß seines Zornes.“[2]

Deutlich wird dies auch an der Arbeit des Schriftstellers, der im Sinne Dürrenmatts, so Mayer, erkennen, denken und verstehen wollte. Als eines der wichtigsten Bücher Dürrenmatts sieht er den »Essay über Israel«[3]. Der ist entstanden „als Bericht über die verzweifelte und vergebliche Umarbeitung einer als »unangemessen« empfunden Rede eines Gastliteraten, der im Lande sieht, wie alles vorher Gedachte und Geschriebene zurückschlägt, ins Gegenteil sich verkehrt.“[4]

Scharfsinnig und facettenreich analysiert Mayer in seinem Beitrag »Dürrenmatt in Jerusalem«[5] den Essay, der gleichzeitig Reisebericht und theologisch-politisches Traktat ist. Es geht um das „dramaturgische Spiel und Gegenspiel zwischen jüdischer und arabischer Tradition“. Das Ziel des immer wieder umgearbeiteten Textes ist der Versuch Dürrenmatts, die Notwendigkeit des Staates Israel zu beweisen. Als Dialektiker kommt er zu dem Fazit: „Israel kommt nicht mehr darum herum, einen palästinensischen Staat zuzulassen, und die Palästinenser kommen nicht mehr darum herum einzusehen, daß nur noch Israel inmitten dieser unstabilen politischen Konstellationen ihren Staat zu garantieren vermag: Sie sind beide aufeinander angewiesen.“[6]

Georg Hensel, der Laudator für den Büchner-Preisträger Dürrenmatt zitierte von einer Begegnung mit Brecht:
„Auch Dürrenmatt und Brecht, als sie einander begegneten – es war nur ein einziges Mal, 1948 in Basel, – stritten sich vorsichtshalber nicht über Gott und die Welt, sondern über Zigarren. Dürrenmatt erzählte darüber: »Als ich Brecht sagte, daß die blonde Havanna, die ich rauchte, stärker ist als seine schwarze Brasil, fiel sein Weltbild zusammen, zum ersten und einzigen Mal.« Nicht Brechts Galilei, sondern Dürrenmatts Physiker sind der stärkere Toback. Über Brecht schrieb Dürrenmatt später den souveränen Satz: »Seine Irrtümer waren nie die meinen, ich irre mich anders.«“[7]

Erfreulich ist, dass die »Büchergilde Gutenberg« zum Jubiläumsjahr eine neue Auflage der gesammelten Werke Dürrenmatts herausgegeben hat, getrennt nach Prosa und dem dramatischen Werk. Man kann natürlich auch jedes Dürrenmatt-Buch einzeln erwerben. Das Urteil der »Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung« bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preis 1986 bleibt weiterhin gültig: „Friedrich Dürrenmatt dem Dramatiker von internationalem Rang und Ruf. Seine Erzählungen, Essays und Theaterstücke, die Mythologie, Wissenschaft und Philosophie umspannen, stellen sich den großen Fragen der Gegenwart mit weitem historischen Horizont, mit exakter Phantasie, mit Weisheit und Witz.“[8]

 

[1] Siehe http://www.eckhard-ullrich.de/theatergaenge/2021-duerrenmatt-romulus-der-grosse-dnt-weimar (Gemeint ist nicht die Aufführung unter der Regie von Thomas Dannemann)
[2] Hans Mayer, Der Meteor, in: ders., Frisch und Dürrenmatt, S. 75-85, Frankfurt 1992, hier S. 76
[3] Friedrich Dürrenmatt, Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption, Zürich 1976
[4] Hans Mayer, Der Meteor, S. 83
[5] Hans Mayer, Frisch und Dürrenmatt, S. 56-67. Erstmals erschienen ist dieser Beitrag in »Die Zeit« Nr. 16 vom 9. April 1976 unter dem Titel „Die Zukunft ist immer utopisch“.
[6] Friedrich Dürrenmatt, Zusammenhänge, zitiert nach der 7bändigen Diogenesausgabe, Band 6, Zürich 1991, S.772
[7] Siehe: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/friedrich-duerrenmatt/laudatio (Zugriff am 4.1.2021)
[8] A.a.O.