„Wer hat eigentlich behauptet zu Kafka wäre schon alles geschrieben worden? Das Kafka-Jahr 2024 zeigt anlässlich des einhundertsten Todestages unseres Lieblings-Pragers: mitnichten! Auf der Sachbuch-Bestenliste der Zeit steht etwa Andreas Kilchers Auseinandersetzung mit >Kafkas Werkstatt‹. Am glücklichsten in seinem Leben war Kafka kurz vor seinem Tod: Dieter Lamping erzählt von der innigen Beziehung des Schriftstellers zu Dora Diamant und seinen letzten Monaten in Berlin. … Ob sich Franz Kafka, der bekanntlich alle seine [noch nicht veröffentlichten HB] Werke bis auf die kürzeste Notiz vernichtet haben wollte, über diese neue Bücherwelle gefreut hätte, wissen wir natürlich nicht. Wir tun es jedenfalls schon!“[1], so berichte der „Perlentaucher“ unter seiner Rubrik „Eichendorff21“ seit Wochen über Neuerscheinungen zu Kafka. 270 Bücher lesenswerte Bücher werden insgesamt aufgelistet.
Ein Blick zurück auf das, was die Kafka-Debatte in den 1960er Jahren bedeutet hat, findet sich aber nur in einigen Presseveröffentlichungen und einem der aufgelisteten Bücher. Das von René Böll herausgegebene Buch seines Vaters über Kafka und den „Prager Frühling“.[2]
Am 20. August 1968 war Heinrich Böll auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands nach Prag gereist. Zeit für die offiziell geplanten Gespräche gab es nicht. Am nächsten Morgen rückten die Truppen des Warschauer Paktes ein. Vier Tage verbrachte Böll gemeinsam mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René in der Stadt. Die Stadt war im Ausnahmezustand. Böll, seine Frau und sein Sohn versuchten immer wieder, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Der Widerstand der Prager durch alle Bevölkerungsschichten hindurch beeindruckte ihn zutiefst. Böll tat das ihm Mögliche, seine Solidarität auszudrücken. Er sprach im Radio, schilderte Zeitungen seine Beobachtungen der Ereignisse. Den im Februar 1967 zum Vorsitzenden des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes gewählten Eduard Goldstücker konnte Böll nicht treffen. Als er abreiste, versprach er den tschechischen Schriftstellerkollegen, so viel und oft wie möglich über das, was er gesehen hatte, zu berichten und darüber zu schreiben.[3] Die Taz berichtet in ihrer Ausgabe vom 15. Juni über Heinrich Böll und seine “Formel von der bewohnbaren Sprache im bewohnbaren Land (sie) bringt … präzise auf den Punkt, was heute wieder auf dem Spiel steht. Ihr Horizont markiert nichts weniger als den Verlust der Welt als Lebensgrundlage der menschlichen Zivilisation und den (neuerlichen) Verlust einer offenen Gesellschaftsordnung, die auf einem liberalen Konsens, auf demokratischer Kontrolle von Macht und auf Ausgleich kapitalistischer Unwuchten aufbaut.” (https://taz.de/Todestag-von-Heinrich-Boell/!6020930/)
Heinrich Böll und Eduard Goldstücker kannten sich bereits seit 1961. Ein Beitrag Goldstückers zum „Botschafter Böll“ findet sich auch in dem Band „In Sachen Böll – Ansichten und Einsichten“[4], der zu Bölls 50. Geburtstag 1968 erschienen ist. Goldstücker war der maßgelbliche Initiator der legendären Kafka-Konferenz, die anlässlich dessen 80. Geburtstag vom 27. bis 29. Mai 1963 im barocken Schloss von Liblice stattgefunden hat. Im Nachhinein wird diese Konferenz nicht ganz unberechtigt als kulturpolitischer Vorbote des „Prager Frühlings“ angesehen.[5]
Jürgen Danyel skizziert in seinem Beitrag kurz die Biografie Goldstückers:
„Die Biographie des Initiators der Konferenz Eduard Goldstücker spiegelt die Brüche dieser Epoche sehr deutlich. Der Prager Germanist war 1933 in die kommunistische Partei eingetreten und floh vor der deutschen Besatzung nach England. Zurück aus dem Exil erhielt er zunächst den Posten des tschechischen Botschafters in Israel, von dem er nach dem Kurswechsel Stalins in der Nahostpolitik zurückbeordert wurde. Wieder in Prag geriet Goldstücker in die Mühlen der Kampagne gegen die angeblichen Verschwörer um Rudolf Slanský, deren antisemitische Töne nicht zu überhören waren. Ende 1951 wurde Goldstücker ohne Angabe von Gründen verhaftet und in Isolationshaft gehalten. Im Slanský-Prozess musste er als „Zeuge“ aussagen, um dann 1953 selbst verurteilt zu werden. Es folgten Haft und Strafarbeit im Uranbergbau. Im Jahr 1955 wurde Goldstücker entlassen und rehabilitiert. Seither setzte sich der Literaturwissenschaftler besonders für die Prager deutsche Literatur und die Anerkennung der künstlerischen Moderne ein. Nach Liblice wurde er zu einem der entscheidenden Wegbereiter des Prager Frühlings auf dem Gebiet von Literatur und Kunst.“[6]
Eingeladen waren zu dieser Liblice-Konferenz marxistische Literatur-wissenschaftler aus verschiedenen Ländern Europas. Hans Mayer, der sich schon früh in der DDR für Kafka, Proust und Joyce eingesetzt hatte, konnte nicht mit der DDR-Delegation zu der Konferenz in Liblice reisen. Anwesend waren Anna Seghers, die allerdings nach einem Tag wieder abreiste, sowie Klaus Hermsdorf, Werner Mittenzwei und Helmut Richter. Letzterer hatte bei Hans Mayer 1959 mit einer Arbeit über „Werk und Entwurf des Dichters Franz Kafka“ promoviert.[7] Richter hatte aber nicht die kritisch-aufgeklärte Haltung zu Kafka, die sein Doktorvater besaß. Die Reaktionen der drei männlichen Vertreter der DDR-Delegation fasst Danyel folgendermaßen zusammen: „In der Diskussion zu den Beiträgen der Tagung ergab sich schon sehr bald eine Frontstellung zwischen den teilweise emphatischen Befürwortern Kafkas und seiner Aktualität, die deutlich in der Mehrheit waren, und den aus der DDR angereisten Literaturwissenschaftlern Klaus Hermsdorf, Werner Mittenzwei und Helmut Richter. Mittenzwei mit dem Hinweis auf Brecht und dessen konsequentere Verfremdungstechnik, Hermsdorf mit der Forderung, man müsse Kafka „historisch machen“, und Helmut Richter mit seinen Einwänden gegen die euphorische Ausdeutung des „Schloss“-Romans durch Eduard Goldstücker. Alle drei formulierten Bedenken gegen eine allzu schnelle Vereinnahmung Kafkas und gerieten so in die Rolle einer dogmatischen Ablehnungsfraktion.“ Anna Seghers lehnte diese Haltung ab. Kafka hatte ihr schon in jungen Jahren viel bedeutet. Sie saß quasi zwischen den Stühlen. Ein paar Monate später schrieb sie an Lukács der bei der Konferenz nicht anwesend war: Es sei ihr „sonderbar vorgekommen, »daß so ernste u. ruhige u. gebildete Menschen in Literatursachen einen Standpunkt beziehen, der gar nicht mehr von ihrem eigenen Aspekt bestimmt wird. (Diese Leute sind gegen Kafka, also bin ich für ihn.)[8]
In seinem Aufsatz „Kafka und kein Ende“ führt Hans Mayer Richters durchaus überlegenswerte Kritik an Emerichs Werk über Kafka an, deutet aber darauf hin, dass die Antworten darauf nicht ausreichend sind.[9] Auch für Hermsdorfs Kafka-Werk findet er kritische Worte: „Das … Kafka Buch Hermsdorfs dagegen (<Kafka. Weltbild und Roman>, 1961) leidet stark unter dem Eklektizismus des Verfassers, der unbedenklich einer recht interessanten Interpretation vor allem des Romans <Amerika> eine mit vorgeprägten arg klischeehaft wirkenden Formen arbeitende Studie über Kafkas «Weltbild» angegliedert. «Kafkas Roman ist der Roman der Dekadenz.»[10]
Im August 1973 hält Eduard Goldstücker in einem Artikel mit dem Titel „Kampf um Kafka – Aus der Vorgeschichte des sowjetischen Einfalls in die ČSSR“ für die Wochenzeitschrift »Die Zeit« noch einmal Rückblick auf die Kafka-Konferenz in Liblice.[11]:
„In eine ganz neue Phase kam der Kampf um Kafka mit der Besetzung der ČSSR am 21. August 1968. Die berüchtigte “schleichende Konterrevolution” (dieser Begriff stammte ebenfalls aus der DDR) wurde unterdrückt und der stalinistische Dogmatismus wieder inthronisiert.
Die in der DDR formulierte Anklage versuchte den Menschen einzuprägen, daß die führenden Anhänger des Prager Frühlings nichts anderes als Agenten gewesen seien, selbstverständlich westdeutsche Agenten. In den Ausgaben vom 10. bis 12. September 1968 erschienen im Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, drei lange Artikel, von einem gewissen Kurt Zimmermann unterzeichnet, mit der gemeinsamen Überschrift “Die geistigen Vorreiter der Konterrevolution”.
Darin heißt es u.a. „Das organisierende Zentrum in der ČSSR, der geistige Vorreiter der Konterrevolution, war eine Gruppe von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, Ökonomen, Philosophen, Soziologen u. a., die vor allem mit den imperialistischen und sozialdemokratischen Ideologen Westdeutschlands sowie Revisionisten anderer Länder engstens verbunden waren…” und weiter:
“Ein wichtiger Markstein für den wachsenden Einfluß revisionistischer und bürgerlicher Ideologie war die Kafka-Konferenz im Mai 1963. Hier trat der Revisionismus in der ČSSR zum ersten Mal massiert und offen in Erscheinung. Zunächst wurde die scheinbar abstrakte Entfremdungsproblematik in den Vordergrund geschoben. Gegen die marxistische Auffassung, daß die Entfremdung aus dem Wesen der kapitalistischen Ausbeutung resultiert, daß sie mit der Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse und der sozialistischen Demokratie Schritt für Schritt beseitigt wird, entwickelten Fischer, Goldstücker u. a. die These, die Entfremdung sei gleichermaßen für den Kapitalismus und den Sozialismus charakteristisch. Der Angriff auf die marxistisch-leninistische Entfremdungstheorie war kein Zufall. Wie auf der Kafka-Konferenz und noch mehr in den folgenden Jahren vor allem von Ernst Fischer demonstriert wurde, eignete sich die dort von Goldstücker und anderen entwickelte Entfremdungstheorie ausgezeichnet zur allseitigen Diffamierung des Sozialismus…”[12]
Für diese ideologischen von der DDR inszenierten Debatten hatte Hans Mayer nichts übrig. Bei der Kafka-Konferenz in Klosterneuburg ging er 1979 auf die Konstellation Walter Benjamin und Franz Kafka ein.[13] Für einen Rundfunkbeitrag im Juni 1931 über Kafka hatte sich Benjamin intensiv und von da an andauernd mit dessen Werk beschäftigt. Schon vorher hatte er sich dezidiert zu den Vorwürfen gegenüber Max Brod geäußert, der die Treue- und Freundschaftspflicht verletzt habe, als er Kafkas Manuskripte nicht verbrannte. „Die Scheu des Autors vor der Publizierung seines Werkes entsprang der Überzeugung, es sei unvollendet, und nicht der Absicht, es geheim zu halten…“[14]
Die ausgezeichnete Kenntnis und Interpretation von Kafkas Werk ist umfangreich dokumentiert in dem von Hermann Schweppenhäuser herausgegebenen Buch »Benjamin über Kafka – Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen«.[15] Das Einfühlungsvermögen Benjamins gegenüber Kafka bringt Mayer so auf den Punkt: „Franz Kafka wird damit für Benjamin in den ersten Exiljahren zur – vielleicht – absoluten Identifikationsgestalt. Er sucht an Kafkas Scheitern die Notwendigkeit seines eigenen Scheiterns zu demonstrieren und wohl auch zu rechtfertigen.“[16]
Auf Benjamins Kafka-Interpretation greift auch Andreas Kilcher in seinem Buch „Kafkas Werkstatt“ zurück, dezidiert bei der Interpretation der kafkaschen Figur des Odradek.[17] Dieses Buch ist eine der interessantesten und lesenswerten Neuerscheinungen. Es treibt von neuem zur Kafka-Lektüre an. „Kafka und kein Ende!“
Heinrich Bleicher
Ein herzliches Dankeschön geht an Herrn Böll, der die 1968 von ihm in Prag gemachten Bilder für diesen Beitrag zur Verfügung stellte.
[1] https://www.perlentaucher.de/
[2] Heinrich Böll, Der Panzer zielte auf Kafka, Köln 2018. Das titelgebende Zitat lautet vollständig: „Vor Kafkas Geburtshaus stand ein Panzer, das Rohr auf die Kafka-Büste gerichtet. Hier wurden Symbol und Wirklichkeit kongruent.“ S. 120f
[3] In dem Buch „Der Panzer zielte auf Kafka“ ist die Solidarität Bölls mit den tschechoslowakischen Schriftstellern durch einen Beitrag von Jochen Schubert unter dem Titel „Der Geist der Unteilbarkeit“ dokumentiert. (S.189ff)
[4] In Sachen Böll – Ansichten und Einsichten, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Köln Berlin 1968
[5] Siehe dazu u.a. Jürgen Danyel, Kafka und der Prager Frühling. Die Konferenz in Liblice 1963 und ihre Folgen, in: Zeitgeschichte-online, August 2018, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/kafka-und-der-prager-fruehling
[6] ebenda
[7] Die Dissertation war dann 1962 bei Rütten & Loening unter dem Titel „Frank Kafka – Werk und Entwurf“ in Berlin erschienen.
[8] Zitiert nach Christiane Zehl Romero, Anna Seghers eine Biographie 1947-1983, Berlin 2003, S. 226. Zehl geht ausführlich in dem Kapitel „Kein Frühling“ auf die Konferenz und ihre Begleitumstände sowie die Folgen insbesondere in der DDR ein. Äußerst lesenswert sind in diesem Kontext auch ihre Ausführungen zu Seghers Erzählung „Die Reisebegegnung“, die von einem Treffen zwischen E.T.A. Hoffmann, Gogol und Kafka in Prag handelt. A.a.O. S. 289ff.
[9] Hans Mayer, Kafka und kein Ende, in: Ansichten zur Literatur der Zeit, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 54-70, hier S. 63.
[10] A.a.O. S. 61.
[11] Der Artikel findet sich unter dem Titel „Zehn Jahre nach der Kafka-Konferenz in Libice“ in dem Buch Miklós Almasi u.a., Franz Kafka – Nachwirkungen eines Dichters, München 1984, S. 62-70
[12] A.a.O., S.65
[13] Abgedruckt in: Hans Mayer, Aufklärung heute – Reden 2, Frankfurt 1985,
S. 45-70
[14] Zitiert nach Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka, S. 47
[15] Benjamin über Kafka – Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1981
[16] Hans Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka, S. 55
[17] Andreas Kilcher, Kafkas Werkstatt – Der Schriftsteller bei der Arbeit, München 2024, S. 149f