Zum 175. Geburtstag Franz Mehrings und seiner»Lessing-Legende«
Gründe für die Neuausgabe dieses Buches sind: „Die Ehrfurcht vor dem Andenken eines großen und zeitgemäßen Historikers; die Unzugänglichkeit gerade dieses Werkes infolge der Zeitumstände; die besondere Aktualität eben dieses Buches von der «Lessing-Legende» in eben diesem Augenblick.“[1] Mit diesen Worten begründet der Herausgeber Hans Mayer im Jahr 1946 die neue und revidierte Ausgabe des Buches von Franz Mehring im Mundus-Verlag Basel.
Der noch im Züricher Exil lebende Hans Mayer fährt fort: „Die Aktualität dieser Mehring-Schrift ergibt sich schon daraus, daß sie gleichsam den Schnittpunkt einer Reihe höchst gegenwärtiger Themen darstellt. Stärker denn je fragt sich die Welt nach den Ursachen einer immer wieder neu hervorbrechenden zynischen Rechtsfeindschaft und Eroberungsgier, deren Ahnentafel durch die Namen des Königs Fridericus, Bismarcks, Ludendorffs und Hitlers dargestellt zu sein scheint. Das Wesen dieses Fridericus-Staates mit den Augen und den unbestechlichen Kenntnissen eines Mehring zu betrachten, ist daher eine wesentliche Aufgabe unserer Zeit.“[2]
Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 als Sohn eines ehemaligen Offiziers und höheren Steuerbeamten und dessen Frau Henriette, geboren. Er studierte klassische Philologie in Leipzig und wurde 1882 an der Universität Leipzig über das Thema „Die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre“ promoviert. Er arbeitete als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und war zwischen den Jahren 1890 und 1918 der wichtigste marxistische Kulturkritiker und Historiker. 1891 trat Mehring der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde einer ihrer wichtigsten Publizisten und Theoretiker auf dem linken Flügel.
Nach einer sehr gelobten Serie in der »Neuen Zeit« erschien die Buchausgabe der »Lessing-Legende« in erweiterter Buchfassung 1893 in erster und 1906 in zweiter Auflage mit dem Untertitel „Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur“. Gewidmet war das Buch „seiner lieben Frau Eva Mehring der treuen Gefährtin in Arbeit und Kampf.“
Nach dem Tod Mehrings am 29. Januar 1919 in Berlin (nur wenige Tage nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs) waren dessen Hauptwerke über die »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«, die »Marx-Biographie« und auch die »Lessing-Legende« noch gut verfügbar. Einer neuen Auflage der »Lessing-Legende« in der Ende der zwanziger Jahre begonnen neuen Gesamtausgabe der Werke Mehrings in der Soziologischen Verlagsanstalt mit Einleitungen von August Thalheimer und begleitet von Eduard Fuchs auf der Basis neuer marxistischer Forschungen, stellten sich die alten sozialdemokratischen Herausgeber entgegen. Nach der Zeit des Nazifaschismus und dem zweiten Weltkrieg herrschte somit Tabula rasa. Für Mayer also ein wesentlicher weiterer Grund für die Herausgabe der »Lessing-Legende«. Entschlackt allerdings von allen Auseinandersetzungen die Mehring in seiner 1. und 2. Buchausgabe mit zeitgenössischen Historikern und Literaturhistorikern geführt hatte. [3]
In wenigen kurzen Charakterisierungen bringt Mayer die wesentlichen Aspekte der »Lessing-Legende« in der Einleitung auf den Punkt. “Wie alle Legenden, zerfällt sie in kleinere Geschichtsfälschungen, aus denen dann der Mythos, der später «geglaubte» Gemeinplatz wird. Die eigentliche Lessinglegende hat drei besondere Legendenelemente – und Mehring legt sie meisterhaft auseinander. Da ist einmal die «Fredericus-Legende». … Mit Vorliebe arbeitet sie mit dem Wort vom «aufgeklärten Despotismus» des Preußenkönigs, wonach dieser Monarch seine von den Zeitgenossen als fast unerträglich empfundene Tyrannei und Willkür nicht zum Zwecke der eigenen Macht- und Herrschaftsziele ausgeübt hätte, sondern aus königlich-verkleideter Freigeisterei und Humanität. Friedrich wird … zu einer Art von gekröntem Humanisten und Freigeist, zu einer Art Lessing aus dem Hause Hohenzollern, der …insgeheim die bürgerlichen Emanzipations- und Freiheitsziele vertreten habe.
Auf der Gegenseite entspricht dem die Kennzeichnung Lessings als eines anerkannten und erfolgreichen Vertreters der deutschen bürgerlichen Ideale und Interessen, denen gerade jene Schichten, deren Ziele hier ausgesprochen wurden, von Anfang an willig und begeistert Gefolgschaft geleistet hätten.
Und aus beiden entsteht nun die dritte, die eigentliche Lessing-Legende: Friedrich und Lessing, der aufgeklärte bürgerliche Monarch und der patriotisch-preußische bürgerliche Schriftsteller hätten einander gesucht und gefunden. Der Preußenstaat Friedrichs II. als die Tat zu eines Lessings Gedanken! Aus einem sächsischen Untertan sei Lessing zum Verherrlicher dieses preußischen Staates und seines Königs geworden. Der Staat von Sanssouci als erste Form eines bürgerlich-emanzipierten Staates in Deutschland – und Lessing als sein Prophet!“[4]
Ist einerseits also der „preußischen Despotismus“ in der Linie von König Fridericus bis Hitler an Mehrings Werk zu studieren, dient es andererseits in Bezug auf die Gegenwart zur Analyse des „unerklärlichen geistigen Absturz des deutschen bürgerlichen Humanismus, der bei Lessing sich wiederzuerkennen behauptete, auf den Geist von Weimar sich zu berufen pflegte – um in Weimars Nähe, in Buchenwald, zu landen. Was aber taugt eine Geschichtswissenschaft, die nicht diesen Verrat der bürgerlichen Schichten an Lessing und am gesamten großen Kulturerbe nicht zu erklären vermöchte!“[5]
Über Mehrings Analyse hinaus bleibt für Mayer dann noch die Frage nach der Funktion und dem Sinn dieser Legendenbildung. Wenn quasi durch Generationen von Gelehrten an dieser Legende gestrickt wird müsse damit eine „bestimmte geschichtlich-historische Aufgabenstellung“ verbunden sein. Es sind die Wurzeln der deutschen «Misere», die Friedrich Engels darin konstatiert, dass „die wirtschaftlich- politische Zusammenarbeit zwischen der deutschen Bourgeoisie des Kaiserreichs und dessen militärisch-feudalen Trägern“ der Grund des Übels ist; verbunden mit dem Machtverzicht des Bürgertums auf die politische Leitung des Staates.
In einem Brief vom 14. Juli 1893 aus London lobt Friedrich Engels das Werk Mehrings nachdrücklich: „Im übrigen kann ich von dem Buch nur wiederholen, was ich schon von den Artikeln, als sie in der „N[euen] Z[eit]” erschienen, wiederholt gesagt habe: Es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert, ja ich kann wohl sagen, die einzig gute, die in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge entwickelnde. Man bedauert nur, daß Sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung bis auf Bismarck haben mit hineinnehmen können, und hofft unwillkürlich, daß Sie dies ein andermal tun und das Gesamtbild im Zusammenhang darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm.“[6]
Die »Lessing-Legende« als eine der wichtigsten Schriften Mehrings findet – außer als Literaturhinweis – in dem einschlägigen Wikipedia-Eintrag keine Beachtung. Ein längerer Abschnitt widmet sich aber dem Verhältnis Mehrings zum Judentum. Die Mehrheit der angeführten Autoren, wie Micha Brumlik, Robert S. Wistrich und Shlomo Na’aman kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Waagschalen trotz mehrfacher einzelner Zitate, die auch Götz Aly anführt, nicht als anitisemitische Haltung Mehrings interpretiert werden können. Im Jahr der Feier von 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland könnte es interessant sein, diesen Sachverhalt auch in Bezug auf Mehrings Position zu Lessing und seinem »Nathan« näher zu betrachten. Mehrings Beitrag dazu endet mit einem Wort Herders zu Lessing: Ich sage Ihnen kein Wort Lob über das Stück; das Werk lobt den Meister.“
[1] Franz Mehring „Die Lessing Legende“ – neu und revidiert herausgegeben von Hans Mayer, Basel 1946, S. 13
[2] A.a.O., S. 17
[3] In der 1975 und dann in den Folgejahren in der DDR herausgegebenen Ausgabe der »Lessing-Legende« als Band 9 der Gesammelten Schriften findet sich auch ein Hinweis auf die Baseler Buchausgabe Hans Mayers in gekürzter Fassung.
[4] A.a.O., S. 15f
[5] A.a.O., S. 18f
[6] Der Brief, der sich auch mit weiteren inhaltlichen Fragen beschäftigt, findet sich in MEW Band 39, Dietz-Verlag Berlin, 1968 S. 96-101