Brief an Tom Buhrow, Intendant des WDR.
Sehr geehrter Herr Buhrow,
in schon etwas zurückliegenden Zeiten gehörte ich – als Bereichsleiter Kunst und Kultur der ver.di sowie als Bundesgeschäftsführer des Schriftstellerverbandes (VS) – zu einem Kreis, mit dem Sie in kulturpolitischen Fragen in kontinuierlichen Kontakt standen. Gern haben wir kulturpolitische Anliegen und Initiativen des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks unterstützt und auf Wunsch auch eine Empfehlung oder einen Ratschlag gegeben, der dem Kulturauftrag des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks förderlich schien.
Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Mit Betroffenheit und Unverständnis muss ich die deklarierten Entscheidungen zu den Streichungen im Kulturprogramm, über die die Presse heute berichtete, zur Kenntnis nehmen. Wie kann man entgegen dem eigenen Verständnis und Auftrag an den Ästen sägen, die wesentlich zur Existenzberechtigung der Öffentlich-Rechtlichen beitragen?
Auf der WDR-Homepage heißt es:
„Wer nach neuen Büchern Ausschau hält, braucht Orientierung im Literatur-Dschungel – wir geben sie! In unseren WDR 3 Büchersendungen nehmen wir Bestseller und Geheimtipps unter die Lupe und empfehlen, welche Neuerscheinung Leser verdient.
Literatur nimmt bei WDR 3 einen großen Platz ein – von montags bis samstags in der Buchrezension von WDR 3 Mosaik. Wir legen Ihnen lesenswerte neue Bücher ans Herz und entdecken gemeinsam Geheimtipps und Klassiker der Weltliteratur neu.“
Der Buchmarkt ist tatsächlich durch eine große Zahl von Neuerscheinungen zu einem „Dschungel“ geworden, in dem selbst versierte Leserinnen und Leser den Überblick verlieren können. Das Leseverhalten ist in der Krise angewachsen. Auch insoweit ist eine Auswahl und Orientierung und Orientierung durch die Medien eine herausragende Aufgabe. Dieser professionelle kulturpolitische Auftrag ist im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt. Eine feste Fixierung im Programm für die Orientierung der Hörer und Zuschauerinnen ist trotz aller technischen Suchmöglichkeiten notwendig.
Neben dem Wegfall der Buchrezensionen steht wohl auch die Streichung des „Gedichts“ auf dem Programm. Als ehemaliger Studioleiter des ARD Studios in Washington. D.C. haben Sie doch sicher den phänomenalen Auftritt der jungen Dichterin Amanda Gorman erlebt, die mit ihrem Gedicht „The hill we climb“ größere Aufmerksamkeit und Zuspruch gefunden hat, als die beiden weltbekannten Sängerinnen Lady Gaga und Jenifer Lopez, deren Beiträge nicht unterschätzt werden sollen. Das könnte doch etwas nachdenklich stimmen.
Natürlich steht am Ende aller Debatten immer die Frage der Finanzierung. Selbstverständlich ist auch mir das unsägliche Debakel bezüglich der Nicht-Erhöhung durch die fatalen Entscheidungen in Sachsen-Anhalt bekannt. Allerdings sollte man bei allen notwendigen Sparmaßnahmen nicht die Äste absägen, die die eigentliche Existenzberechtigung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks ausmachen.
Es heißt, dass der damalige Premierminister Winston Churchill, während der Luftkrieg über Großbritannien tobte, aufgefordert wurde, die Kulturausgaben zu Gunsten des Verteidigungshaushalts zu kürzen. Er antwortete trocken: »Und für was kämpfen wir dann?« Etwas anders formuliert: Wofür eigentlich steht der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk.
Ich hoffe, die oben angesprochenen Kultureinschnitte im WDR sind noch keine endgültig beschlossene Sache. Werden Sie diese noch einmal überdenken und zurücknehmen?
Die heutigen Ausführungen von Herrn Kremin unter dem Titel „Mehr Vielfalt über die Literatur“ auf der WDR-Homepage lassen leider mehr Fragen offen, als fundierte Antworten oder reflektierte Neukonzeptionen zu geben.
Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen
Ihr
Heinrich Bleicher-Nagelsmann
Da es sich um eine öffentliche Angelegenheit handelt, erlaube ich mir, den Brief an Sie auf der Homepage der Hans-Mayer-Gesellschaft zu veröffentlichen. Sollten Sie mir eine Antwort geben, werde ich diese mit Ihrem Einverständnis dort ebenfalls platzieren.
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Antwort im Auftrag von Tom Buhrow
Der Programmbereichsleiter von WDR3, Matthias Kremin, hat am Dienstag dem
2. Februar 2021 im Auftrag des Intendanten eine Antwort auf den oben stehenden Brief gegeben. Ich gebe sie unkommentiert und ungekürzt wieder:
“Sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,
vielen Dank für Ihre mail vom 26. Januar an Tom Buhrow, der mich gebeten hat, Ihnen zu antworten.
Ich teile Ihre Ansicht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen besonders schützenswerten Kulturauftrag hat und – bei allem Ärger um die Berichterstattung – es ist auch gut, wenn sich die Freunde dieses Kulturauftrags zu Wort melden, wenn es Grund für einen Alarm gibt.
Nun ist es so, dass wir zwar Änderungen in der Morgensendung „Mosaik“ planen, aber von Streichung „der Literatur“ keine Rede sein kann.
Die neu formierte Redaktion der Sendung hat sich Gedanken über ihre Sendung gemacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass Literatur-Rezensionen nicht immer gleich gebaut sein müssen, dass sie in der Form variieren sollten und auch nicht immer am gleichen Platz ausgestrahlt werden müssen, denn manchmal eignet sich ein Thema nicht für eine Morgenstrecke oder ist besser in einer Kultursendung am Nachmittag aufgehoben.
Diesen Vorgang würde ich nicht alarmierend nennen. Es ist die Aufgabe einer Redaktion, sich Gedanken über das eigenen Programm zu machen. Diese Gestaltungsfreiheit einer Redaktion ist ein hohes Gut im WDR, das durch das Redakteurstatut geschützt ist. Klar formuliert: Wenn eine Redaktion beschließt, dass sie mehr oder weniger Rezensionen produzieren möchte – oder andere – oder diese auf einem anderen Sendeplatz ausstrahlen möchte, dann ist das kein Grund für eine Petition. Überflüssig zu erwähnen, dass die Redaktion alle weiteren Formatänderungen mit den Mitarbeitern besprochen hat und auch meine Zustimmung eingeholt hat.
Tatsächlich schlecht gelaufen ist in diesem Fall die Kommunikation mit den freien Mitarbeitern der Literatur-Redaktion. Den Rezensent*innen wurde der Eindruck vermittelt, die Redaktion „Mosaik“ plane ab September alle Rezensionen abzuschaffen.
Ich bin mit den Kolleg*innen im Austausch und konnte in einem Schreiben das Missverständnis z.T. aufklären. Auf Seiten des WDR gibt es jedoch eine deutliche Irritation über die initiierte Petition, die den wahren Sachverhalt verunklart und nun vielen Menschen das Gefühl gibt, „gegen die Abschaffung der Literatur“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterschreiben zu müssen.
Was nun das Gedicht angeht – auch hier geht es eher um die Frage, wo und wann Lyrik bei WDR3 gesendet wird. Ich bin Ihnen dankbar für das Beispiel Amanda Gorman. Es war eine Steilvorlage für eine Redaktion, einen besonderen Akzent auf einem Sendeplatz zu setzen. Leider wurde am Tag der Inaugoration in WDR3 ein Gedicht über das Wetter platziert – eine weitere verpasste Chance. Die Mosaik-Redaktion möchte daher Gedichte Anlassbezogen einsetzen.
Zum Schluss werden Sie sich sicher freuen zu hören, dass die o.g. Änderungen in der Sendung „Mosaik“ nichts mit Sparmaßnahmen zu tun haben.
Ich hoffe, ich konnte diesmal einige der offenen Fragen beantworten und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Matthias Kremin
Programmbereichsleiter WDR3”
Nachtrag:
Zu einer Diskussion über das Thema “Und wie sieht die Zukunft der Literaturkritik und -vermittlung aus?” hatte das Kölner Literaturhaus für den 23. Februar eingeladen.
Es diskutieren die Literaturkritikerin Insa Wilke, Initiatorin der Petition gegen die Streichung von Literaturformaten im WDR, Verlegerin Kerstin Gleba, Volker Schaeffer, Leiter der aktuellen Kultur beim WDR, sowie Alf Mentzer, Leiter der Kulturredaktion beim Hessischen Rundfunk. Jenny Friedrich-Freksa, Chefredakteurin der Zeitschrift „Kulturaustausch“, moderiert.
zur Aufzeichnung der Veranstaltung geht es über diesen link:
https://dringeblieben.de/videos/die-zukunft-der-literaturkritik