Die Tage zwischen den Jahren dienen dem Rückblick auf das vergangene Jahr und auch dem Erinnern. In dieser Zeit erreichte mich eine Mail von Welf Schröter, einem Mitglied der HMG, mit der Bitte um Veröffentlichung eines Textes, in dem er an den tschechischen Autor und Literaturwissenschaftler Antonin Jaroslav Liehm und sein Wirken im „Prager Frühling“ erinnert.
Gibt es eine Verbindung zu Hans Mayer und diesen Ereignissen?, war die Frage, die mir durch den Kopf ging. Das Stichwort dazu ist “Kafka”[1]. Für ihn und andere damals moderne Autoren wie Joyce war Mayer vehement zu seiner Zeit als Professor in Leipzig eingetreten. Gegen die Parteidoktrin vom „Sozialistischen Realismus“, die in aller Vehemenz nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand durchexerziert wurde. Dem setzte Mayer Widerstand in unterschiedlichster Form entgegen. Einer seiner Schüler, Helmut Richter, promovierte beim ihm über „Werk und Entwurf des Dichters Franz Kafka“ [2]. Als der musikalische und literarische „Prager Frühling“ 1963 an der Moldau begangenen wurde, war Richter am 27./28. Mai mit einer DDR-Delegation unter Leitung von Anna Seghers bei einer großen Kafka-Konferenz, die von Eduard Goldstücker, damals einer der führenden Germanisten an der Karls-Universität, einberufen worden war. Mehr als 100 weitestgehend marxistische Literaturwissenschaftler und Philosophen war zugegen. Unter ihnen Roger Garaudy aus Frankreich, Ernst Fischer aus Wien. Berichte über die sehr offenen geführten Debatten zeigen, dass die DDR-Delegation zu der auch Klaus Hermsdorf, der bei Alfred Kantorowicz über Kafka promoviert hatte, entgegen der Sichtweise Mayers nicht zu einer progressiven, fortschrittlichen Haltung zu Kafka und seinem Werk neigten. Die inzwischen als legendär geltende Konferenz in Liblice kann durchaus als literarischer Vorfrühling der Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei gesehen werden.
Als Hans Mayer 1992 auch durch den inzwischen habilitierten Helmut Richter die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig verliehen wurde, erinnerte der Gelobte an seinen ehemaligen Schüler Pawl Petr, der 1968 aus Prag weggehen mußte und später Professor an der Universität in Melbourne wurde. Hier nun der Beitrag Welf Schröters:
Nachgedanken zum Tod von Antonín J. Liehm, einem Gesicht des „Prager Frühlings“
Als er im Sommer 1978 in Tübingen ankam, dachte er zuerst an Karola und Ernst Bloch, die sich im Jahr 1968 öffentlich auf die Seite des „Prager Frühlings“ gestellt und sich politisch schützend vor den Präsidenten des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker gegen die sowjetische Okkupation gestellt hatten. Doch der tschechische Autor und Literaturwissenschaftler Antonín Jaroslav Liehm reiste an den Neckar auf Einladung einer kleinen Gruppe von Tübinger Studentinnen und Studenten, die sich 1978 mit den demokratischen Oppositionsbewegungen in Polen, in der CSSR, in der DDR und in Ungarn solidarisierten. Aus Anlass des zehnten Jahrestages des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen hatten wir einige Akteure des damaligen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, die vor den Panzern und der erzwungenen autoritären „Normalisierung“ nach Westeuropa geflüchtet waren, nach Tübingen eingeladen. Es galt, an die brutale Niederwalzung einer Demokratiebewegung zu erinnern. Antonín Liehm sprach in fließendem Deutsch über die Hoffnungen des „Prager Frühlings“ und über die große Bedeutung der Literatur in der stalinisierten Gesellschaft der CSSR der fünfziger und sechziger Jahre. Liehm war Literat und Redakteur. Er schrieb und brachte Zeitungen hervor. Sein Name ist mit Vaclav Havel, Ludvík Vaculík,und Milan Kundera verbunden. Er war Chefredakteur der Zeitschrift Litérarní noviny und scharfer Kritiker des Antisemitismus. Antonín Liehm und seine Freunde wollten dem „Prager Frühling“ eine Phase des gesellschaftlichen öffentlichen Lernens folgen lassen. Die Bürgerinnen und Bürger sollten durch Literatur und die Vielfalt der Literatur die Vielfalt der Demokratie und des demokratischen Miteinander erkennen. In seiner Emigration in Paris blieb Liehm seinem Handwerk treu. Er gründete das renommierte Blatt „Lettre international“. Sein Auftreten in Tübingen, seine ruhige, gelassene Art des Sprechens hinterließen einen tiefen Eindruck. 1978, zehn Jahre nachdem Panzer den Wenzelsplatz besetzten, sprach Liehm von Hoffnung. Trotzalledem. Mit seiner Hoffnung sollte er Recht behalten. Zwei Jahre nach seinem Besuch brachte die Gewerkschaft Solidarnosc das polnische Regime ins Wanken.
Antonín Jaroslav Liehm ist in seiner Geburtsstadt Prag am 4. Dezember 2020 im Alter von 96 Jahren gestorben. Er war ein Mann, der von Zurückhaltung und einer uneingeschränkten Loyalität zur Idee der Demokratie geprägt war. Es gibt Momente, die in der Erinnerung haften bleiben. Die Begegnung mit ihm war ein solch besonderer Moment.
Welf Schröter
[1] Heinrich Böll, Der Panzer zielte auf Kafka, Köln 2018
[2] Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf, Rütten & Löhning, Berlin 1962