Bekannt ist von Hans Mayer seine Herkunft als promovierter Jurist und späterer Literaturwissenschaftler. Gerade in seiner Exilzeit zeigt er sich aber auch als ausgezeichneter Historiker und Soziologe. Das zeigen u.a. seine Arbeiten für das Horkheimersche »Institut für Sozialforschung« und seine Begegnungen am Collège de Sociologie mit herausragenden Wissenschaftlern wie Bataille, Klosowski und Benjamin. Natürlich war der Nationalsozialismus in Deutschland ein zentrales Thema.
„Was bloße Ideologie und sektiererische Verschwörung war, hat er [Hitler] in eine Taktik, eine Politik des Erfolgs überführt.“ In bestechender Analyse zieht Hans Mayer in seinem Vortrag am 18. April 1939 vor den Mitgliedern und Gästen des Collège de Sociologie[1] die historische Linie von den „Ressentiments, Emotionen und Erinnerungen […], die die deutsche Geschichte und insbesondere die Geschichte der Einigung Deutschland im letzten Jahrhundert (i. e. das 19. Jh., H.W.) produziert und komponiert“[2] haben zum Nationalsozialismus.
Wie Mayer in einem Brief an Denis Hollier berichtet, der die Vorträge im Collège de Sociologie veröffentlicht hat, folgte die Einladung zu diesem Vortrag seinen regelmäßigen Begegnungen mit Georges Bataille. In seiner Autobiographie Ein Deutscher auf Widerruf hat Mayer über die Treffen mit Georges Bataille berichtet: „Georges Bataille war viel ,deutscher‘, als ich es hätte je sein können.“[3] Mayer bedauerte in seiner Biographie sein „Versagen vor ihm und seinem Werben, hatte doch Bataille schon 1933 über „Die psychologische Struktur des Faschismus“ geschrieben und darin festgestellt, dass das »erwachte« Deutschland eine Entgrenzung des Denkens verlange, „um die Entgrenzungen, die folgen würden, vom tradierten Handbeil bis zur perfektionierten Gaskammer, begreifbar zu machen.“[4] „Ich bin ausgewichen, ohne zu verstehen,“ bedauert Mayer. Hatten sich zwei Intellektuelle verpasst? Die Frage ist berechtigt, da Mayers Vortrag durch seine Erklärungsversuche, Interpretationen der Erfolge Hitlers zu formulieren, auf großes Interesse stoßen musste, zumal Bücher der von Mayer genannten Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck (1876-1926), Das Dritte Reich, 1923, schon seit 1933 auf Französisch vorlagen oder kurz darauf erschienen wie Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, 1938 (Gallimard 1939).
Mayer bezieht sich in seinem Vortrag im April 1939 auf die Rezeption Hitler-Deutschlands durch französische Soziologen und Politiker. Das erste Erklärungsmuster derjenigen, die Hitler in der Theorie des »ewigen« Germanen sehen, dass die mittelbaren Anlässe wie Massenarbeitslosigkeit oder Irrtümer der Parteien, die als Erklärung für den Erfolg Hitlers bemüht werden, verwirft Mayer als zu oberflächlich. Hitlers Erfolg insbesondere bei den Mittelschichten will Mayer mit einer zweiten These deuten, die auf Mythen zielt, die an die Reichsidee und ein mittelalterliches Deutschland gepaart mit dem Nationalismus vieler Gruppen anschließen: „ein Historismus, der sich seiner selbst nicht bewußt ist“[5].
Die Idee des »Dritten Reichs« stamme nicht von Hitler, sondern von Arthur Moeller van den Bruck. Moeller war es auch, der 1922 die Außenpolitik des Dritten Reichs unter dem Titel Sozialismus und Außenpolitik formulierte. Ein Jahr später spreche Moeller van den Bruck vom Anbruch des deutschen Zeitalters. Mayer nennt auch Ernst von Salomons Buch über die Freicorps, Die Geächteteten (Berlin 1930), das 1931 in Paris unter dem Titel Les réprouvés erschien. Mayer zitiert Hermann Rauschning, der das Fehlen eines Programms und fester Werte feststellte. Auch Nihilisten gelinge es, so Mayer, eine Zauberformel anzuwenden. Folgerichtig negiere der Nationalsozialismus alle Formen der Differenzierung in der Gesellschaft; Hierarchien ebne er vordergründig ein, um sie im nationalsozialistischen Staat nur umso stärker wieder entstehen zulassen. Gleichschaltung ist das Stichwort. Dieser geistige deutsch-französische Austausch noch Ende der 30er Jahren auf diesem Niveau wäre eine eigene Untersuchung wert.
Zu dem Erklärungsansatz Mayers gehört der Hinweis, dass Hitler es wohl verstanden hat, die vielen Gruppierungen „Bloße Ideologie und sektiererische Verschwörung“ (S. 239) zu einen, hatte ihm doch der gescheiterte Putsch von 1923 in München die negativen Aspekte geheimbündlerischer Aktionen aufgezeigt.
Auf der Spurensuche nach dem Nationalismus hitlerscher Prägung verzeichnet Mayer den vollständigen Bruch der Nationalsozialisten mit den führenden Schichten der Weimarer Republik. Hitler wendet sich gegen die Parteien; „das Individuum wird dem bürgerlichen, zivilen Leben entrissen“ (S. 534). In einem Halbsatz bringt Mayer seine ganze Empörung auf den Punkt und deutet nebenher, wie trotz der Niedertracht der „Bewegung“ ihr Erfolg zustande kam: „ … es (i.e. das Individuum) ist als Empörer mit anderen Empörten verbunden.“ (ib.) Gleichzeitig werde der bürgerliche Nationalismus aus der Vorkriegszeit negiert.
Mayers These lautet, der integrale Nationalismus der Kriegsheimkehrer wende sich zu den ersten Bünden, die Anfang des 19. Jh. die nationale Idee in Deutschland gestalteten. Mayer kann der Ansicht, Hitler habe sich nordischer, germanischer oder neuheidnischer Mythen bedient, nicht teilen, hingegen zeigt sich Mayer überzeugt, dass Mythen der deutschen Geschichte, die an die Reichsidee oder an das mittelalterliche Deutschland anknüpften „bedeutungsvoller“ waren.
Es folgt als Hauptteil des Vortrags zum Nationalgefühl von seinem Erwachen bis 1871 (S. 535-546), mit dem Mayer die Anfänge des „Integralen Nationalismus in Deutschland“ (S. 549) darstellen wollte. Er unterstreicht mit Nachdruck den Unterschied zwischen Kulturnation und Staatsnation. Nach einer wechselvollen Geschichte vollziehe sich 1807 nach der Schlacht von Jena und dem Frieden von Tilsit, so Mayer, der Wandel vom Kampf um die Kultur zum Kampf um den deutschen Nationalstaat. Aus diesem Jahr stammt auch der „Tugendbund“ mit Stein, Scharnhorst, Gneisenau u. a. In diesem Umfeld entstand das Freikorps des Majors Ferdinand von Schills (1776-1809) und sein Versuch, Stralsund zu erobern, den er mit dem Leben bezahlte. Es entstanden weitere Bünde, alle mit dem Ziel, Deutschland von fremder Herrschaft zu befreien, wie die „Deutsche Gesellschaft, auch „Deutscher Orden“ genannt. Die „schwarzen Jäger“ des Generalmajors von Lützow. Ernst Moritz Arndt mit seinem Entwurf einer »teutschen Gesellschaft« (1814) gehörte zu den theoretischen Köpfen dieser Bewegungen.
1815 entstand ein patriotischer Studentenbund unter dem Namen „Burschenschaft“ mit Ablegern in vielen Städten, die die deutsche Frage für sich in den Mittelpunkt rückte. 1818 kam es zu einem Streit um den Nationalismus zwischen den Älteren und dem Anführer der jungen Burschenschaftler, Karl Follen[6] (1796-1840), der sich mit seinem Eintreten für die Revolution und die Republik durchsetzen kann und so künftig den jungen deutschen Nationalismus anführe. Hinter Follen stand eine Art Organisation geeint durch Treue und Verschwiegenheit: darunter die „Unbedingten“ und die „Unbeugsamen“, Karl Ludwig Sand (1795-1820) ist auch mit dabei. Was sie alle einte war ein revolutionäres Eintreten für Demokratie, antifranzösischer, christlicher und antisemitischer Nationalismus, angefacht von der radikalen Kritik an der Französischen Revolution. Mayer unterstreicht „die bizarre Mischung rationaler und irrationaler, liberaler und antiliberaler Begriffe.“ Bei dem Wartburgfest[7] 1817 mit der Bücherverbrennung jüdischer Autoren wurden auch die „Urfeinde eines deutschen Volkssturmes“ (S. 546) verbal angegriffen. Mayer erinnert an die Feme die „eine sehr eigenartige Vorstellung von den Geheimtribunalen der Germanen“ hervorrief.
Die Bewegung scheiterte 1819, als Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 August von Kotzebue ermordete.[9] Mit den daraufhin verkündeten Karlsbader Beschlüssen von 23. März 1819 wurde den Burschenschaften und damit ihrem Versuch „einen integralen Nationalismus“ (S. 549) zu fördern, ein Ende gesetzt. Die gleiche Geisteshaltung, mit der Sand mordete, erkennt Mayer bei den Mördern von Rathenau und Erzberger wieder.
Es ist der Nationalliberalismus, der an das Hambacher Fest von 1832 erinnert, der die Politik in der Weimarer Republik kennzeichnet, aber schon begann, so Mayer der Geist von 1819, „der Geist des Unbeugsamen, der Mythen und der direkten Aktion“ (S. 549) sich wieder auszubreiten. Erst nach 1918 beginne, so Mayer, „dieses seltsame Spektakel“: „Die Erhaltung der Energie, diese Rückkehr zu den Riten“, dazu kommt die Jugendbewegung und wieder der Geist von 1819: „der Geist der Unbeugsamen, der Mythen und der direkten Aktion“. (S. 549).
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[1] Das Collège de Sociologie 1937-1939, hg. v. Denis Hollier, Berlin 2012. Zu Benjamins Kritik an den Vertretern des Collège de Sociologie: vgl. Gérard Raulet, Kojève, Bataille, Caillois und das Collège de sociologie. Antifaschisten, welcher Art? Die Mimesis als politische Waffe, in: Das befristete Dasein der Gebildeten. Walter Benjamin und die französische Intelligenz, Konstanz 2020 (235-281). Das Collège de Sociologie entstand als Idee Anfang 1937 und existierte dann von November 1927 bis Juli 1939. Die Idee zu seinem Namen geht ging auf Jules Monnerot zurück: man wollte Soziologie nicht lehren, „sondern sie weihen … sakralisieren“, so Dennis Hollier in seiner Einleitung zu dieser Sammlung von Vorträgen, die in diesen beiden Jahren im Collège de Sociologie gehalten wurde. Zum Leitungsgremium gehörten Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois. Im zweiten Jahr wurden außer René Guastalla, Pierre Klosowski, Denis de Rougemont u. a. auch Jean Paulhan und Hans Mayer zum Vortrag im Hinterzimmer der Rue Gay-Lussac, Hausnummer 15, eingeladen. Die Veranstaltungen waren öffentlich: Eintrittspreis 4 Fr.
[2] Hans Mayer, Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland, in: Denis Hollier, Hg., Das Collége de Sociologie, a. a. O (521-550)., hier: S. 526.
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Band I, Frankfurt/Main ²1982, (236-242), vgl. im Folgenden, S. 241 ff.
[4] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, a. a. O., S. 242.
[5] Hans Mayer, Die Riten, S. 525.
[6] Zur Rolle von Karl Follen, vgl. Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, Frankfurt/M 1972, S: 122 und ders., Georg Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946, S, 136 f., In Jena wurde 1815 die erste Burschenschaft gegründet. Neben dem Hass auf Frankreich entwickelte sie auch einen ausgeprägten Antisemitismus bei der Frage, ob jüdische Studenten aufgenommen werden sollten Vgl.: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bad 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012 (138-140), S. 138: „Maßgeblichen Eindruck hatten nicht nur die deutsch-völkischen Stichwortgeber Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt sowie der Philosoph Johann Gottlieb Fichte hinterlassen, sondern auch der in Heidelberg lehrende Philosoph Jakob Friedrich Fries und der in Berlin tätige Historiker Friedrich Christian Rühs, die beide durch ihre vehemente Judenfeindschaft hervorgetreten sind. Innerhalb der deutschen Burschenschaften war es paradoxerweise vor allem die demokratische Gießener Gruppe unter Karl Follen, die sich am stärksten gegen die Aufnahme von jüdischen Studenten stemmte.“
[6] Dazu: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, a. a. O. S: 139:„Zu einem antijüdischen Eklat kam es auf dem von den Burschenschaften initiierten Wartburgfest im Oktober 1817 zur Feier des 4. Jahrestages der Schlacht von Leipzig und zum Gedenken an die Reformation vor 300 Jahren, auf dem Bücher jüdischer Autoren unter begeisterten Zurufen christlich-deutscher Studenten verbrannt wurden.“ Vgl. auch Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale, Frankfurt/New York, bes. Kap.4: „Korporationen im 19. Jahrhundert: Vom Urburschenschaftler zum Corpsstudenten als „Idealbild des wilhelminischen Kaiserreiches“, S. 83-119 und Kap. 5: „Verbindungsstudentische Männerbünde als Protagonisten der völkischen Antimoderne im 19. und 20. Jahrhundert Antisemitismus S. 12-135, bes. 5.1. Antisemitismus; S. 122-128.
[7]Vgl. dazu auch: Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988, S. 42.