Erinnerungen an einen großen Roman der Weltliteratur – Im Zeichen des Archivierens
Von Anne Bendel
Anlässlich des heutigen 130. Geburtstages des russischen Dichters Boris Pasternak will die Hans-Mayer-Gesellschaft an jenen großen Roman der Weltliteratur erinnern, den Hans Mayer zum Anlass nahm, einen seiner umstrittensten Essays zu schreiben – Doktor Schiwago.
Im November 1962 erschien bei Rowohlt der Band Ansichten. Zur Literatur der Zeit: „Eine Sammlung größerer Aufsätze, von denen einige passieren mochten, sogar solche über Kafka oder Sartre. […] Unzumutbar hingegen war ein Text über den „Doktor Schiwago““.[1] Mayer hatte sich von Anfang an „auf vermintes Gelände“[2] begeben, als er sich in seiner Studie der Analyse des Doktor Schiwago zuwendete. „Mit ihr griff er seinerzeit ein in der Sowjetunion und ihrem Herrschaftsbereich hochbrisantes kulturpolitisches Thema auf. In der Sowjetunion war eine Veröffentlichung des Romans verhindert worden“[3], wie Leo Kreutzer in seinem Essay Doktor Schiwago anders gelesen konstatiert. Pasternak hat 1958 den Nobelpreis abgelehnt – aus zutiefst politischen Gründen. Für Hans Mayer konnte eine Beschäftigung mit Pasternaks Roman nur in einem Fiasko enden. Hans Mayer, der seit Ende 1956, kurz nach dem Ende des Ungarn-Aufstandes, wie viele Intellektuelle in der DDR, systematisch von der Staatssicherheit überwacht wurde, hatte es gewagt die „Nicht-Parteilichkeit“ des Jurij Schiwago ernst zu nehmen – zum Missfallen der Partei, wie man wusste. Klaus Schuhmann war derjenige, der sich in einem Diskussionsbeitrag offen und in aller Härte über Mayers Publikation äußerte.[4] Daneben erschienen Anfang Mai 1963 zwei Artikel einer Serie von insgesamt elf Artikeln, die bereits im Titel auf eine Kritik des Essays über Pasternak hindeuten: Christa Wolf oder Boris Pasternak von Roland Opitz, erschienen am 1. Mai 1963 in der Universitätszeitung Leipzig (UZ) sowie Kunst ohne Parteilichkeit? Bemerkungen zu einem Aufsatz über Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ von Walter Dietze und Wolfgang Neubert, erschienen am 16. Mai 1963, ebenfalls in der UZ. Am 30. Mai erschien der Artikel mit dem Titel Eine Lehrmeinung zu viel – „Die meinige nämlich“[5], wie Hans Mayer in seinem Memoiren schreibt. Dieser Artikel war, zusammen mit dem Affront gegen seinen Essay über den Doktor Schiwago sowie der Einladung Peter Hacks‘ zu einer Lesung im Hörsaal 40[6], letztlich der Auslöser für seine Übersiedlung in den Westen. Schon aus diesem Grund möchte ich an jenen großen Roman der Weltliteratur erinnern, der selbst schon, wie Mayer festhält, „ein Buch der Erinnerung“[7] ist.
Nachdem Mayer in seinem Essay Doktor Schiwago das von Marc Chagall eigens zerstörte Bild mit dem Titel Die Revolution eingehend interpretierte, hält er fest:
Liest man den großangelegten, derart heftig umstrittenen Roman, so will es scheinen, als sei Marc Chagalls Revolutionsbild von 1937 gleichsam eine malerische Vorwegnahme dessen gewesen, was Pasternak mit der Geschichte des Dr. Jurij Andreitsch Schiwago geben wollte: ein Buch der Erinnerung; eine Darstellung des Nebeneinander von Kontinuität und Veränderung; eine Aufzeichnung des Gesehenen und Erlebten ganz ohne Parteinahme.[8]
Mayers Beweisführung bringt zum Ausdruck, dass „das Grundthema des Pasternak-Romans […] das totale Nicht-Engagement des Menschen“[9] ist. Er erkennt in „Schiwagos Bekenntnis zum Nebeneinander, zur Parteilosigkeit, zur Akausalität gesellschaftlicher Vorgänge […] das geheime Gestaltungsprinzip des Pasternak-Romans“[10], welches er anhand der Szenen während Schiwagos Gefangenschaft bei den Partisanen zwischen Liberij Mikulízyn, Partisanenführer, und Jurij Schiwago, erläutert. Dieses Nebeneinander ist auch ein Prinzip, welches sich auf das Konzept des Erinnerns in Pasternaks Roman anwenden lässt.
Als der erwachsene Medizinstudent Doktor Jurij Schiwago an das Bett der kranken Anna Iwanowna, Mutter seiner späteren Ehefrau Tonja, tritt und zu ihr spricht, um sie zu beruhigen, sagt er:
Aber was ist das Bewußtsein? […] Wenn man bewußt einschlafen wollte, so wäre Schlaflosigkeit die Folge. Der bewußte Versuch, sich in den Vorgang der eigenen Verdauung einzufühlen, würde zu sicheren Störungen des Organismus führen. Das Bewußtsein ist Gift, ein Mittel der Selbstvergiftung für das Subjekt, das es an sich selber zur Anwendung bringt. Das Bewußtsein gleicht den Scheinwerfern einer Lokomotive. Sowie sich dieses Licht nach innen wendet, wird eine Katastrophe die unweigerliche Folge sein.[11]
Schiwago erklärt hier das Bewusstsein zu etwas Äußerem. Es ist der nach Außen gerichtete Teil, der dem Menschen den Weg weist und in dem er in Erscheinung tritt:
Was wird also aus Ihrem Bewußtsein? […] Was sind Sie eigentlich? […] In welcher Weise haben Sie eine Erinnerung an sich selber, welchen Teil Ihres Organismus haben Sie bewußt erkannt? Ihre Nieren, Ihre Leber, die Gefäße? Nein, wie sehr Sie sich auch erinnern wollen, Sie haben sich immer nur im Äußeren erkannt, in einem tätigen In-Erscheinung-Treten, in den Werken Ihrer Hände, in der Familie, in der Gemeinschaft. Jetzt bitte ich aufzumerken: der Mensch in den anderen Menschen, das ist die eigentliche Seele des Menschen. Das ist es, was Sie sind. Das ist es, was Ihr Bewußtsein geatmet hat, wovon es sich ernährte, was das Leben erfüllte. Ihre Seele, Ihre Unsterblichkeit, Ihr Leben in den anderen – und nun? In den anderen haben Sie gelebt, in den anderen werden Sie auch bleiben. Und was wäre es für ein Unterschied, wenn das später Erinnerung genannt wird? Sie wären es, die eingetreten ist in den Zusammenhang, in den Zustand des Künftigen.[12]
Der Andere ist hier Bedingung für das Leben des Einzelnen, für das In-der-Welt-Sein, aber auch für das Weiterleben – in den Anderen und somit im Gedächtnis und in der Erinnerung. Für Schiwago ist das Leben eine stetige Erneuerung und kommt damit einer Auferstehung gleich, die für ihn bereits mit der Geburt einsetzt. Der Tod existiert für Schiwago nicht. Er wird transzendiert, dadurch, dass das Leben in stetiger Erneuerung stattfindet: „Es wird keinen Tod geben, sagt der Evangelist Johannes, und nun hören Sie wie einfach er argumentiert: Es wird keinen Tod geben, weil das Vergangene vergangen ist.“[13] Dadurch, dass das Leben in stetiger Erneuerung stattfindet, wird auch Schiwagos eigener Tod in der Vorwegnahme transzendiert. Dieser Aspekt ist eng mit dem Konzept des Erinnerns verbunden – der Andere als Voraussetzung dafür, dass das gelebte Leben erinnert und damit erfahrbar wird. Dabei spielt das Archiv als Ort der Speicherung von Wissen und Erfahrung, aber auch als kulturelles Gedächtnis[14] eine virulente Rolle. Die Erfahrung des Anderen mit dem Archivgut, kommt dabei, ebenso wie bei Schiwago das Leben, einer Auferstehung gleich. Das gelebte Leben, welches archiviert wurde, wird durch den Anderen erweckt und mit neuem Leben gefüllt. Das Archiv ist jedoch nicht Bedingung dafür, dass ein Leben erinnert wird – es ist der Andere, der das Erinnern befördert – durch das Lesen, Rezipieren und Weitergeben der Erinnerung. Sowohl das Archiv als auch der Andere sind als Medium zu verstehen, durch das Hindurch die Erinnerung erfolgt. Damit wird die Erinnerung notwendigerweise modifiziert und verändert, allein deshalb, weil das Erinnern durch ein Medium geschieht.[15] Erinnerungen finden sich jedoch nicht nur in Archiven, sondern ebenso sehr in Büchern, Aufzeichnungen, in zerstörten Bildern, wie jenes von Chagall eigens zerstörte Revolutionsbild, in Erzählungen Anderer, oder an Orten, die nicht im Archiv verzeichnet sind und auch nie jenes erreichen werden. Das Archiv ist eine Möglichkeit, ein Leben zu konservieren und es exemplarisch zu vermitteln. Trotzdem darf es nicht als die einzige Möglichkeit angesehen werden, an ein Leben zu erinnern.
Im Fall des Doktor Schiwago wird das Weiterleben in den Anderen und damit die Erinnerung letztlich durch die Veröffentlichung seiner Gedichte erzeugt. Für Mayer sind die Gedichte am Ende des Romans nur Pasternak-Gedichte, „Verse Pasternaks, [in denen], der Dichter […] seinem Helden den eigenen dichterischen Rang [leiht] – und […] dadurch alle Konturen der Romangestalt [verwischt].“[16] Für Mayer letztlich nur „ein verzweifelter Ausweg aus dem Dilemma aller Künstlerromane der Bürgerwelt.“[17] Tatsächlich hat sich erst die jüngste Forschung mit dem fünfundzwanzig Gedichte umfassenden Zyklus[18] am Ende des Romans beschäftigt. Dagmar Burkhart legte im Jahr 2000 die erste in sich geschlossene Interpretation aller fünfundzwanzig Gedichte vor. In ihrer Analyse Doktor Schiwago – neu gelesen stellt sie den Gedichtzyklus am Ende des Romans nicht als bloßen Anhang dar, sondern verleiht diesem „ein semantisches und strukturelles Eigengengewicht“.[19] Durch die Veröffentlichung der Gedichte wird Schiwago als Dichter nicht nur erinnert, sondern „erlebt ein zweites, metaphysisches Dasein“.[20] Die Erinnerung an den Dichter Schiwago ist damit an das Moment der Erfahrung mit dem Dokument verbunden.
Kurz nach Schiwagos Tod bittet Jewgraf Lara, Schiwagos Geliebte, mit ihm den Nachlass seines Bruders durchzugehen. Sie geht auf dessen Wunsch ein. In der letzten Szene des Epilogs zeigt sich die Wirkung der Schriften Schiwagos auf dessen Freunde Gordon und Dudurov:
Sie blätterten in dem von Jewgraf zusammengestellten Heft der Schriften Jurijs […] Unter ihnen lag Moskau, die Stadt, die den Verfasser hervorgebracht und sein halbes Leben bestimmt hatte! Dieses Moskau schien ihnen im Augenblick nicht nur der Schauplatz all dieser Geschehnisse zu sein, sondern die Heldin einer langen Epopöe, an deren Ende sie angelangt waren – an diesem Abend mit diesem Hefte in der Hand. Wenn auch der Sieg die erhoffte Aufklärung und Freiheit nicht gebracht hatte, so gab es doch eine Vorahnung der Freiheit; […] Den beiden altgewordenen Freunden am Fenster wollte es scheinen, als sei diese innere Freiheit schon errungen, als habe sich die Zukunft gerade an diesem Abend spürbar über die Straßen von Moskau niedergesenkt und als seien sie selbst in diese Zukunft eingetreten. […] Das Buch, das sie in den Händen hielten, wußte das alles und gab ihren Empfindungen Bestätigung und Sicherheit.[21]
Schiwagos hinterlassene Schriften scheinen auf die Freunde wie eine Antizipation auf das Zukünftige zu wirken. Durch das Lesen der Schriften des Jurij Schiwago wird nicht nur der verstorbene Dichter Schiwago erweckt, sondern auch die beiden Freunde des Dichters, Gordon und Dudurov. Beiden scheint es, als ob die Zukunft nicht vor ihnen läge, sondern sich in jenem Moment der Gegenwart bereits manifestiert hat. Hierin spiegelt sich Schiwagos eingangs erläutertes Konzept der Erneuerung des Lebens in jedem Augenblick.
In der Lyrik wird dies noch einmal verstärkt sichtbar. Das Konzept der Erneuerung des Lebens findet in den Gedichten Bestätigung, schon dadurch, dass der Gedichtzyklus nach Jahreszeiten gegliedert ist. Der Frühling ist dabei die stärkste Jahreszeit, in der sich alles erneuert. Die Parallelität, das Nebeneinander, wie es schon bei Hans Mayer, jedoch zuallererst auf die Figur des Jurij Schiwago im Prosateil bezogen, erscheint, stellt bei Burkhart eine zentrale Kategorie bei der Analyse der Gedichte dar. Schon im ersten Gedicht Hamlet wird diese Parallelität sichtbar. Das Leben und die Auferstehung werden nebeneinander gestellt: „Doch durchdacht rückt Akt um Akt nun näher: / Nichts, das sich dem End entgegenstellt. / Bin allein. Ringsum nur Pharisäer. – / Leben ist kein Gang durch freies Feld.“[22] So wie Schiwagos Leben, war auch Hans Mayers Leben „kein Gang durch freies Feld“ – es war ein einsames Leben inmitten eines Jahrhunderts der Verwirrungen und Erschütterungen. Der Erfolg und das Scheitern stehen sich bei Hans Mayer, ebenso wie bei Schiwago das Leben und der Tod, nicht gegenüber, sondern bilden eine Einheit. Aus diesen Zeilen des Hamlet-Gedichts geht ferner hervor, das Prosateil und Gedichtzyklus des Doktor Schiwago eine Einheit bilden. Jeder Akt wird in poetischer Form nacherzählt und findet in den Gedichten seinen komplexen Ausdruck. Auch das Leiden, in Form des Leids Christi, steht immer wieder im Mittelpunkt der Gedichte. Burkhart schreibt: „Durch die Verschmelzung des lyrisch-dramatischen Helden, eines Schauspielers in der Rolle Hamlets, mit der Christus-Figur treten die Seme /Schwäche/, /Stärke/, /Selbsttranszendenz/ als /Opfer/ sowie /Auferstehung/ hervor.“[23]
Im Prosateil wird das Leiden zunächst in der Figur der Mutter verkörpert: „Dann erkrankte die Mutter, die immer leidend gewesen war, an Tuberkulose.“[24] Ab dem Moment des Todes der Mutter leidet auch der zu dem Zeitpunkt zehnjährige Jura. Der Tod der Mutter antizipiert das im Roman fortlaufende Leiden und Sterben durch den Bürgerkrieg und die Revolution. Juras Trauer wird erst durch seinen Onkel Kolja, Nikolai Nikoláitsch, besänftigt, der ihn nach dem Tod seiner Mutter aufnimmt. Die Entwicklung des jungen Jura wird maßgeblich durch seinen Onkel beeinflusst. Neben der Mutter ist das Leiden auch in der Figur der Lara Fjodorowna, Juras späterer Geliebten, verkörpert. Dies zeigt sich schon früh in der Beziehung zwischen Lara und dem Rechtsanwalt Victor Ippolitowitsch, Komarovskij, der als Freund des verstorbenen Vaters, Lara und ihre Familie „unter seinen Schutz genommen hatte.“[25] Jura scheint die eigentümliche Beziehung zwischen Lara und Komarovskij bereits zu erahnen, als er Lara in seiner Jugend zum ersten Mal begegnet, ohne zu wissen, wer sie ist:
“Jura verschlang die beiden mit den Augen. Aus dem halbdunklen Vorraum, wo niemand ihn bemerkte, starrte er wie gebahnt in den Lichtkreis der Lampe. Die Szene zwischen dem gefangenen Mädchen und seinem Meister war unsagbar geheimnisvoll und furchtbar entlarvend. Neue und widersprechende Empfindungen drängten sich schmerzhaft in Juras Brust zusammen.“[26]
Einerseits ist Jura von der Anziehungskraft Laras fasziniert, andererseits scheint es ihn zu erschrecken und zu schmerzen. Er erkennt, dass Lara eine Gefangene ist. Jahre vergehen, bis er sie auf einer Weihnachtsfeier, nachdem Lara einen Mordanschlag auf Komarovskij zu verüben gedachte, erneut sieht:
“Als er sie sah, war Jura nahe daran, die Besinnung zu verlieren. ‚Sie also ist es! Und wieder unter außergewöhnlichen Umständen! […] sie war es also, die geschossen hatte? Auf den Staatsanwalt! Bestimmt gehörte sie irgendwie zu den ‚Politischen‘. Die Arme! Diese Sache wird ihr nicht gut bekommen. Wie stolz und schön sie ist! Diese Teufel aber ziehen sie an den Händen; sie verdrehen ihr die Arme wie einer überführten Diebin.‘ Doch hierin täuschte er sich.”[27]
Dass Lara nicht aus politischen Gründen, sondern aus zutiefst persönlichem Leid handelte, konnte Jura nicht ahnen. Er empfindet Mitleid, bleibt jedoch passiver Beobachter. Laras Leiden wird durch das Motiv des Teufels verstärkt. Es vergehen wieder einige Jahre bis Jura und Lara sich inmitten der Kriegswirren in einem Lazarett zum ersten Mal tatsächlich begegnen. In den weiteren Begegnungen zwischen Lara und Jura, die darauf folgen, wird das durch Tod und Zerstörung, durch Revolution und Bürgerkrieg hervorgerufene Leiden transzendiert:
“Noch mehr aber als die Seeleneinheit einte sie der Abgrund, der sie von der übrigen Welt trennte. Ihnen beiden war alles fatal Typische am heutigen Menschen gleichermaßen verhaßt – seine erzwungene Begeisterung, sein schreiendes Pathos und jene Ohnmacht, die in all den zahllosen Arbeiten in Kunst und Wissenschaft zum Ausdruck kam, während das Genie nach wie vor eine ganz große Seltenheit blieb. Ihre Liebe war sehr groß. Alle Welt liebt, ohne das Einmalige des Gefühls gewahr zu werden. Aber sie, und darin bildeten sie eine Ausnahme, empfanden und erkannten in jenen Augenblicken, da wie der Hauch des Ewigen sich der Atem der Leidenschaft über ihr todgeweihtes Dasein legte, immer neue Geschehnisse über sich selbst und über ihr Leben.”[28]
Hierin drückt sich das „Bekenntnis zum Nebeneinander, zur Parteilosigkeit, zur Akausalität gesellschaftlicher Vorgänge“[29], wie es Hans Mayer konstatierte, des Jurij Schiwago wie auch der Lara aus. „Erzwungene Begeisterung“, „schreiendes Pathos“, „jene Ohnmacht“ des modernen Menschen, waren beiden verhasst und so findet eben jenes oben erwähnte Bekenntnis in ihrer Liebe den höchsten transzendentalen Ausdruck. Die gegenseitige Liebe zwischen Jura und Lara ist dabei eng mit dem Leiden verbunden. Das Leiden findet seinen Höhepunkt mit dem Tod des Jurij Schiwago. So spricht Lara, als sie von Jura Abschied nimmt:
“Erinnerst du dich, wie ich damals im Schnee von dir Abschied nahm? Wie hast du mich getäuscht! Wäre ich denn je ohne dich gefahren? Oh, ich weiß, du tatest es meinetwegen, aber es ging über deine Kraft. Und dann brach alles zusammen. O Gott, was habe ich erleben und erleiden müssen! Aber von alldem weißt du nichts. Oh, was habe ich angerichtet, was hab ich angerichtet! […] Die Seele findet keine Ruhe vor Qual und Reue. Aber das Wesentliche sage ich nicht; das enthülle ich nicht. Davon zu sprechen geht über meine Kraft.“[30]
Kurz vor ihrem Verschwinden enthüllt Lara ihr Geheimnis dem Bruder Schiwagos. Mit dieser Szene endet der Roman. Das Geheimnis, welches Lara Jewgraf enthüllt, ist das Bekenntnis zu ihrem gemeinsamen Kind mit Jura, mit dem Namen Tanja, welches in den Wirren des Krieges verschollen ging. Zuvor hatte sie Jewgraf gebeten ihr in einer Angelegenheit zu helfen: „Es geht um ein Kind. Doch davon später, wenn wir aus dem Krematorium zurück sind.“[31] Jewgraf verspricht ihr zu helfen. Erst Jahre später findet Jewgraf Tanja, als Wäscherin arbeitend, bei den Freunden Gordon und Dudurov und erkennt in ihr die Tochter von Lara und Jura. Durch die Herausgabe der Gedichte wird nicht nur die Erinnerung an den Dichter Schiwago aufrechterhalten, sondern gleichsam an seine Geliebte Lara. Diese Liebe wird in den Gedichten in Erinnerung gerufen und mit neuem Leben gefüllt. Gerigk fasst zusammen:
“Im Zentrum [des Romans] geht es um die Liebesgeschichte eines verheirateten Arztes, Jurij Schiwago, mit einer ebenfalls verheirateten Frau, Lara Antipowa. Nur für kurze Zeit erleben sie die Idylle einer ungestörten Zweisamkeit inmitten der politischen Wirrnis des Bürgerkriegs zwischen „Revolution“ und „Gegenrevolution“. Danach werden sie durch den Lauf der Dinge für immer voneinander getrennt. Lara sieht ihren Jurij nur noch als Leiche wieder. Innerlichkeit und Außenwelt stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und so kann Jurij Schiwago die Wirklichkeit seiner Seele (die für einen ewigen Augenblick mit Lara real wurde) nur in seinen Gedichten vor einer Zerstörung durch die Außenwelt retten.“[32]
Die Gedichte sind also nicht nur an das biblische Moment der Auferstehung und die in der Natur durch das Frühlingserwachen sich vollziehende Erweckung geknüpft, sondern gleichfalls an das Moment der erwachenden Liebe sowie der schmerzvollen Trennung. Der Gedichtzyklus ist als „Speicher“ zu verstehen, der die im Prosateil geschilderten Ereignisse konzentriert darstellt, sie archiviert und für die Nachwelt konserviert. „Die Dichtung“, so schreibt Horst Jürgen Gerigk in seinem Aufsatz Pasternaks Doktor Schiwago und Dantes Vita Nuova: ein poetologischer Vergleich, „erlöst das Leben vom Tod.“[33]
Anhand dieser Ausführungen sollte demonstriert werden, dass das Nebeneinander von Leben und Tod, Geburt und Auferstehung sowohl für die Analyse des Prosateils als auch des Gedichtteils zentral sind. Weil durch die Romanstruktur die Gedichte am Ende in einem geschlossenen Zyklus gezeigt werden, und wie erläutert wurde, sich dieser auf die Geschehnisse im Prosateil bezieht, können Prosateil und Gedichtzyklus nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die Parallelität von Prosateil und Gedichtzyklus ist entscheidend um das Konzept des Erinnerns zu verstehen. Insgesamt ist Doktor Schiwago in „seiner ganzen poetischen Struktur auf ein Speichern und Erinnern bewahrungswerter Kulturbestände angelegt[er] [Roman]“, wie Andreas Guski in seiner Einführung über den Doktor Schiwago zusammenfasst. Weil dem so ist, müssen wir uns dem Bewahren widmen und an jenen großartigen Dichter Boris Pasternak erinnern, der heute, am 10. Februar 2020, 130 Jahre alt geworden wäre.
[1] Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II. Frankfurt a. Main, Suhrkamp: 1988, S. 244
[2] Leo Kreutzer (Hg.): Doktor Schiwago anders gelesen. Hans Mayers Leipziger Selbstbehauptung. In: Anders gelesen. Essays zur Literatur. Wehrhahn Hannover: 2011, S. 128
[3] Ebenda
[4] Vgl. Mark Lehmstedt: Dokumente 1956-1963. Leipzig, Lehmstedt Verlag: 2007, S. 477 (Original TY: SächsStA Leipzig, Nr. IV/A/4/14/057; UAL R 23, S.74-81)
[5] Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II, S. 255
[6] Am 13. Dezember 1962 liest der Schriftsteller und Dramatiker Peter Hacks in Leipzig auf Einladung des Institutsleiters der Deutschen Literaturgeschichte, Hans Mayer, aus seinem Stück Die Sorgen und die Macht: „Des Blondschopfs Stunde war gekommen. Zumal ich, als genügte sie nicht, die schlimme Sache mit Pasternak und Schiwago, alles noch schlimmer machte, indem ich mich außerdem noch für Peter Hacks einsetzte und sein offiziell stark befehdetes Theaterstück „Die Sorgen und die Macht““, so Mayer in seinen Memoiren. Weiter schreibt Mayer: „Hacks las bei uns zur selben Stunde, da Walter Ulbricht in seiner Geburtsstadt Leipzig in der Kongreßhalle eine richtungsweisende Rede hielt, die auch eine Verdammung des Theaterstücks über die Sorgen und die Macht einschloß.“ Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II, S. 244ff
[7] Mayer: Doktor Schiwago. In: Ansichten. Zur Literatur der Zeit. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt: 1962, S. 206
[8] Ebenda, S. 207
[9] Ebenda, S. 212
[10] Ebenda, S. 208
[11] Pasternak, S. 83f
[12] Ebenda
[13] Ebenda, S. 84
[14] Vgl dazu u.a.: Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin, Kadmos: 2009
[15] Vgl. Georg W. F. Hegel.: Phänomenologie des Geistes. Paderborn, Voltmedia: 2005, S. 69f.: „Oder ist das Erkennen nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.“
[16] Mayer: Doktor Schiwago, S. 224
[17] Ebenda
[18] Zur Forschungslage der Analyse der Gedichte als Zyklus, siehe Dagmar Burkhart: „Doktor Ziwago“ – neu gelesen. In: Ulrike Jekutsch, Walter Kroll (Hg.): Slavische Literaturen im Dialog. Festschrift für Reinhard Lauer zum 65. Geburtstag. Wiesbaden, Harrassowitz: 2000, S. 310f
[19] Ebenda, S. 309
[20] Ebenda, S. 329
[21] Ebenda, S. 607f
[22] Pasternak, S. 609
[23] Ebenda
[24] Pasternak, S. 11
[25] Ebenda, S. 30
[26] Ebenda, S. 76
[27] Ebenda, S. 104
[28] Ebenda, S. 467f
[29] Mayer: Doktor Schiwago, S. 208
[30] Pasternak, S. 589
[31] Ebenda, S. 584
[32] Hans Jürgen Gerigk: Pasternaks Doktor Schiwago und Dantes Vita Nuova: ein poetologischer Vergleich. https://www.horst-juergen-gerigk.de/aufs%C3%A4tze/pasternaks-doktor-schiwago-und-dantes-vita-nuova-ein-poetologischer-vergleich/, abgerufen am 09.12.2019. Gerigk analysiert in diesem Aufsatz die These, dass Dantes Vita Nuova ein poetologisches Vorbild für Pasternaks Doktor Schiwago gewesen sei. Dabei setzt er die Gedichte ins Zentrum seiner Analyse. Er geht davon aus, dass Schiwagos Leben in der Dichtung „seinen wahren Ausdruck gefunden hat: verdichtet zur Dichtung“. In Dantes Vita Nuova geschieht etwas Ähnliches. Gerigk erklärt, wie Dantes Liebe zu Beatrice ihn durch ihren Anblick „in eine von nun an sein Leben beherrschende Fixierung auf Beatrice“ versetzt. Dante fängt an, dies in einem oder mehreren Gedichten zu verzeichnen. So entsteht der Vergleich zu Pasternaks Doktor Schiwago. Letztlich argumentiert Gerigk, dass durch den Vergleich zu Dantes Vita Nuova, Pasternaks Roman „in die literarische Reihe der großen Liebesgeschichten des Abendlandes“ rückt. Dies ist eine interessante Wendung im Vergleich zu Hans Mayers Interpretation, der die Gedichte, wie oben erwähnt, als bloße Verse Pasternaks ansah und ihren Stellenwert für die Romangestalt Schiwago unterbewertet.
[33] Ebenda.