Am Tag nach dem Brand von Notre-Dame in Paris 2019 waren der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, Heinrich Bleicher und der Autor dieses Nachrufs, bei Alfred Grosser zu einem Gespräch geladen. Eigentlich sollte es um seine Zusammenarbeit mit Hans Mayer gehen, aber dann standen doch Notre Dame und der jüngst in Aachen unterzeichnete deutsch-französische Vertrag im Mittelpunkt unseres Gesprächs: Brexit, Europe, Paris et Berlin: Alfred Grosser répond à nos questions (19. April 2019)
Der Politologe, Historiker und Publizist Alfred Grosser ist am 7. Februar 2024 kurz nach seinem 99. Geburtstag in Paris verstorben. Er hat sein Leben dem Verhältnis und ständigem Austausch zwischen Frankreich und Deutschland gewidmet. Und er hat mehrere Generationen der Frankreich- und Deutschlandforscher geprägt. Keinem Politologen oder Historiker beider Länder ist er nicht über lange Jahrzehnte vertraut gewesen. Zu seinem 99. Geburtstage formulierte der Korrespondent von Radio France Internationale Pascal Thibaut in einem Tweet eine der zutreffendsten Würdigungen seines Lebenswerks in einem Satz: „Alfred Grosser, notre père a tous dans le monde franco-allemand fête ses 99 ans!“
Das stimmt so: Er war unser aller Wegbegleiter, er war Mahner, Mittler und ein scharfsinniger Beobachter, freundschaftlich aufgeschlossen aber auch scharfsinnig kritisch, wenn es galt, Ungereimtheiten oder Inkohärenzen in seinem eigenen Land, in Frankreich, oder in Deutschland aufzudecken. Über vierzig Bücher hat er veröffentlicht, darunter die Deutschlandbilanz (1970), die Grundlage meiner Kenntnisse über die bundesdeutsche Geschichte nach 1945. 36 Jahre lehrte er am Institut d’Etudes Politiques de Paris („Sciences Po“), von 1966 bis 1980 als Professor. Seit 1993 gibt es dort einen Lehrstuhl „Alfred Grosser“, der jedes Jahr neu besetzt wird.
Wohlverdiente Ehrungen haben sein Lebenswerk gewürdigt, so unter so vielen anderen 1975 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels oder 2019 die Verleihung durch Emmanuel Macron im Palais de l’Élysée der höchsten Stufe der Ehrenlegion, des Großkreuzes Ehrenlegion mit Stern und Schulterband.
Alfred Grosser hatte eine stete Lust zum Widerspruch. Den Kontrahenten in der Diskussion auch mal den Standpunkt ihrer Gegner zu erklären. Ein Mittler zwischen beiden Ländern zu sein, das war die Lebensaufgabe, die er sich erwählt hatte.
Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren. Seine Familie ging 1933 nach Frankreich in die Emigration, nachdem das Nazi-Regime dem Vater Paul Grosser, Professor für Kinderheilkunde, die Lehre verboten hatte. Traurigerweise verstarb der Vater 1934 in Paris. 1937 wurde seine Mutter Lilly mit ihren Kindern in Frankreich eingebürgert. 1941 starb seine Schwester Margarete nach einem Fahrradunfall. Er studierte Germanistik und wurde 1955 Professor am Institut d’Études Politiques (Sciences Po) in Paris.
Er reist sehr oft nach Deutschland zu Vorträgen, Diskussionen, Buchvorstellungen, zur Teilnahme an „Höfers Frühschoppen“ und vielen anderen Veranstaltungen, z B. im Literaturhaus in Stuttgart am 22.6.2017. Ganz oft war die Bedingung um anzureisen, der Besuch in einer Schule, um mit Schüler*innen zu diskutieren, so kam es auch zur Diskussionsrunde mit Alfred Grosser im Rückert-Gymnasium, Berlin im Februar 2015. Im Deutschen Bundestag hat er dreimal gesprochen: 1974 zum Volkstrauertag, 1999 und 2014 anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges: > Gedenkstunde im Bundestag: 1914-1918: Alfred Grosser hat am 3. Juli 2014 im Bundestag gesprochen.
1976 begann ich mit dem Studium in Paris und kam in der Rue Saint-Guillaume an, das Buch mit seinem Foto in der Tasche und hörte seine Vorlesungen in Sciences Po Mittwochs um 10 Uhr: Introduction à l’étude de la vie politique und am Donnerstag um 10 Uhr L’Allemagne de notre temps.
Die chemise, der Aktendeckel, war sein wichtigstes Hilfsmittel in den Vorlesungen. Er kam herein, legte die chemise auf die erste Bankreihe und begann oft mit einem Zeitungartikel, den er gerade aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte, oft um zu zeigen, dass ein Journalist wieder einmal nicht alle Aspekte berücksichtigt hatte.
Das ständige Lernen, aufmerksam sein: Lesen Sie, was nicht in dem Artikel steht, pflegte er uns zu erklären, und schimpfte erstmal auf sich selbst. Gestern habe ich das nicht beherzigt… das lange geplante Institut in Paris, kommt jetzt endlich… und über die Zeitungsmeldung habe ich mich gefreut und sie nicht genau gelesen… das Wörtchen Paris fehlte und eine andere Stadt wurde nicht genannt, nun es kommt nach Straßburg… das nächste Mal lesen Sie bitte, was nicht im Artikel steht, lautete seine Botschaft.
Oder eines Morgens kamen wir zusammen am Eingang von Sciences Po an: Er sagte Baader ist tot, ich sagte, wie konnte das passieren? Er. Nein, sie müssen eine andere Frage stellen: Wie kam die Pistole in die Zelle?
Wie oft musste ich bei seinen Vorlesungen und unseren späteren Begegnungen voll Respekt daran denken, dass Alfred Grosser von 1947 an 20 Jahre lang an der Leitung Comité d’échanges avec l’Allemagne nouvelle beteiligt war. Er gehörte zu den Initiatoren der deutsch-französischen Aussöhnung. Wem denn als ihm gebührte eine große Aufmerksamkeit das besondere Gut der deutsch-französischen, Aussöhnung, Kooperation und Freundschaft nicht zu vernachlässigen?
Mehrmals durfte ich ihn in den letzten Jahren zu Hause besuchen. Wir tauschten gemeinsame Erinnerungen aus: Mein Blog mit tausenden Artikeln auf Französisch und Deutsch ist das Ergebnis seiner Lehre. “Ach schon wieder ein Interview (Die deutsch-französischen Beziehungen und die Europapolitik. Ein Gespräch mit Alfred Grosser, 13. September 2013 von H. Wittmann), das haben wir doch neulich erst gemacht. Die Fragen vorher besprechen? Nein, nein, fangen Sie an.” Nach dem Interview ging er in sein Büro und kam wieder und überreichte mir eine Sondermarke mit einer romanischen Kirche und fragte nach: “Sie besuchen doch immer wieder diese Kirchen in Frankreich?”
Am Ende seines Buches Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz[1], zitiert Grosser die Worte eines seiner liebsten Romanhelden Jean Barois in dem gleichnamigen Roman von Roger Martin du Gard: “«Ich bin mit Vertrauen in mich selbst, in das alltägliche Bemühen, in die Zukunft der Menschheit geboren. Ich habe mich ohne Schwierigkeit immer im Gleichgewicht gehalten. Mein Geschick war das eines Apfelbaums auf guter Erde, der regelmäßig seine Früchte trägt.» In diesem Sinn und solange ich geistig und körperlich dazu imstande bin, würde ich gerne weitermachen. So lange hoffe ich auch, die Freude beizubehalten. Bis zum unausweichlichen, nicht erwünschten, aber auch nicht befürchteten Tod.“
Heiner Wittmann
[1] Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek bei Hamburg 2011. Vom Klappentext dieses Buches stammt auch der Titel dieses Nachrufs. Grosser hat diese Formulierung eines Journalisten gern angenommen: Dies ist in der Tat mein ständiges Ziel.
Hier findet sich eine informative Kurzfassung von einem längeren Interview, dass Heiner Wittmann mit Alfred Grosser geführt hat.