75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen
Unter dem Titel „Peinlich späte Erkenntnis“ schreibt der Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«, Ronen Steinke, über die in der Bundesrepublik lange verhehlte Erkenntnis der Rechtmäßigkeit der Urteile im Nürnberger Prozeß vom 30. September 1946. Noch 1958 hielten die Richter am Bundesverfassungsgericht „nichts“ vom Werk der alliierten Juristen. „Der Bundesgerichtshof zitierte am 9. September 1958 in kühler Präzision eine ganze Reihe von Äußerungen westdeutscher Regierungsstellen, um zu untermauern, dass die Bundesrepublik keine einzige Entscheidung des Nürnberger Tribunals anerkannt habe. Das Urteil gegen 22 mächtige Männer des NS-Systems, Vernichtungskrieger wie Hermann Göring oder Wehrmachtschef Wilhelm Keitel sowie Einpeitscher wie Stürmer-Chef Julius Streicher. Das sei nichts als Siegerjustiz gewesen. Die neu geschaffenen, internationalen Straftatbestände, nämlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Führen eines Angriffskriegs: Sie seien nicht einmal gültiges Recht.“[1] Adenauers Justizminister Hans-Joachim von Merkatz hatte sogar erklärt, die Nichtanerkennung des Nürnberger Urteils sei eine Frage der “deutschen Würde”.
Wie der große sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch war Hans Mayer einer derjenigen, die dies völlig anders sahen. Als Chefredakteur von Radio Frankfurt sprach er am 2. Oktober 1946 einen Kommentar zum Urteil im Nürnberger Prozeß, an dem er auch persönlich teilgenommen hatte. 1978 erschien dieser Kommentar leicht verändert in der »Zeit« unter dem Titel „Deutschland und die politische Humanität“.
Mayer baut seine Argumentation auf der Sichtweise von Kants 1795 erschienenen Schrift »Zum ewigen Frieden« auf. Darin bemühe sich Kant darzulegen, „daß im Wesen keine Trennung bestehe zwischen der Politik und der Moral, wobei er Moral immer wieder und ausdrücklich gleichsetzt mit der Entwicklung der Humanität, der Menschlichkeit. Wesensgleichheit aber von Politik und Humanität, das schien ein geeignetes Thema am Abend eines Urteilsspruches, der gerade Verbrechen gegen die Humanität, gegen die Menschlichkeit im Namen angeblicher Politik zum Gegenstand hatte.“[2]
In seinem Kommentar macht Mayer deutlich, dass es nicht nur um die Verurteilten Nazi-Größen wie Karl Dönitz, Baldur von Schirach, Alfred Jodl, Franz von Papen, Albert Speer, Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Alfred Rosenberg und Julius Streicher gehe. Mitgearbeitet hatten die Generäle, die Richter, die Wirtschaftsführer, die mit ihrem Geld „die Bürgerkriegsbanden“ organisiert hatten. Aber auch deutsche Lehrer und Erzieher sowie Intellektuelle, die „in der Blut-und-Eisen-Sprache schwelgten“. An führender Stelle auch der „spätere Kronjurist Görings, der Professor Carl Schmitt.“ Mayer hegte damals die Hoffnung, dass alle diese Männer und ihre Helferhelfer ihre Sühne erhalten würden. Sein Fazit: „Doch uns bleibt die Lehre: die Notwendigkeit einer geistigen Erneuerung, als Abkehr von jenem Kult von Blut und Eisen des Hohns auf Freiheit, Humanität, Menschenrecht und Völkerrecht. Es bleibt die Rückkehr zur einfachen menschlichen Anständigkeit. Das Urteil von Nürnberg wendet sich an uns alle. An uns liegt es das Wort Kants dennoch wahrzumachen.“
Bis es in der Bundesrepublik dazu gekommen ist, hat es allerdings Jahrzehnte gedauert. Erst in den 90er Jahren kam es laut Steinke auch bei den Juristen zu einer Kehrtwende der nach dem Kriegsende weiterherrschenden Verfassungssicht, dass das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nicht bedingungslos gelten könne.
Heinrich Bleicher
[1] Ronen Steinke, Peinlich späte Erkenntnis, Süddeutsche Zeitung vom 30. September 2021
[2] Zu allen Zitaten Mayers siehe: Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt 1982, S. 342-352