„Für mich war diese Begegnung ein Glücksfall“

Hans Mayer über seinen Lehrer Hans Kelsen

„Ich habe kaum jemals eine so reine, uneitle, scharfsinnige Denkarbeit zwischen einem großen Gelehrten und seinen Schülern erlebt. Dieser Professor kannte seinen Rang: er brauchte nicht aufzutrumpfen.“[1] Mit diesen Worten lobt Hans Mayer in dem Buch »Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I« seinen juristischen Lehrer Hans Kelsen.

Das gleiche Zitat befindet sich in einer Graphic Novel die unter dem Titel »Gezeichnet« zu einer Ausstellung über Hans Kelsen zur Zeit im Juridicum in Wien zu sehen ist. Sie wurde aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Bundesverfassung Österreichs gestaltet und würdigt den maßgeblichen Autor der ältesten schriftlichen Verfassung, die in Europa noch seit ihrer Verabschiedung gilt. Abgesehen natürlich von der Zeit des Nazifaschismus in Österreich von 1938-1945.

Auf dem Weg nach Köln (Foto: HB)

Wegen politischer Anfeindungen hatte der Jude Kelsen Wien Ende 1930 verlassen und eine Professur für Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität in Köln angenommen. Mit dem Frühjahrssemester 1931 begann er dort seine Tätigkeit, die allerdings nur bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 dauerte. Die Antrittsvorlesung hielt er zum Thema »Wesen und Wert der Demokratie«. Zu diesem Thema hat er ein gleichnamiges Buch verfasst, das als preisgünstige Reclamausgabe zu erwerben ist. Zu Recht lobt der Klappentext diese Demokratiebegründungsschrift. „Wichtig war ihm, wie die Freiheit des Einzelnen am wirkungsvollsten zu sichern ist; er behandelt die Rolle des Parlaments und dessen Verhältnis zum Volkswillen, die Bedeutung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, von Eliteauslese und Gewaltenteilung.“[2]

Begeistert hat der junge 24jährige Hans Mayer gemeinsam mit seinen Kommilitonen in den Jahren 1931 und 1932 bei Hans Kelsen studiert. Er und seine Freunde aus dem Kreis der »Roten Kämpfer« waren wöchentlich auch privat bei dem bewunderten und kritische Denkprozesse initiierenden Professor eingeladen. Die politischen Verhältnisse änderten sich in diesen Jahren wie man weiß allerdings gravierend. Als Nachfolger von Hans Mayers Doktorvater Stier-Somlo wurde Carl Schmitt Professor an der Uni Köln. Dessen Berufung hatte Kelsen unterstützt, obwohl er sich damit nicht nur einen Gegenspieler ins Haus holte, sondern auch den Mann, der ihn nach der Machtübernahme durch die Nazis von der Uni Köln vertrieb. Die von Kelsen vertretene »Reine Rechtlehre«[3] war im Prinzip das Gegenteil von dem was Schmitt mit seiner Theorie des Freund-Feind-Denkens und Staatsrechtslehrer des NS-Staates vertrat. In dem Kapitel über Kelsen und Schmitt führt Mayer in seinen Erinnerungen sehr deutlich diesen schon vor 1933 sichtbaren Gegensatz aus. In seiner eigenen Doktorarbeit zeigt er noch vorsichtig formuliert was Georg Lukács später als „Zerstörung der Vernunft“ bezeichnet hat.

Trotz aller belegbaren Untaten Schmitts während der Nazizeit hatte er in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder Konjunktur. Mit einer Entpolitisierung Carl Schmitts versuchte man nach dem Krieg seine Unterstützung und Legitimierung des totalen Staates vergessen zu machen. Joachim Perels stellte damals in einem Beitrag für die »Frankfurter Rundschau« fest: „In der Auseinandersetzung mit Positionen und Begriffen Schmitts, seiner Favorisierung der bloßen Ordnung zu Lasten der Rechtsordnung, konstituiert sich ein Stück des Kampfes um die demokratische Verfassung.“[4]

In seine Kölner Zeit fällt die Auseinandersetzung Kelsens mit Carl Schmitt. Ein zentraler Streitpunkt war die Frage, wer »Hüter der Verfassung« sein sollte. Während Schmitt den Schutz der Verfassung einem mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Reichspräsidenten überantworten wollte, trat Kelsen für rechtsstaatliche Prozeduren und für die Demokratie ein.[5] Nach der Machtübernahme durch die Nazifaschisten musste Kelsen 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland fliehen. In Genf, am »Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales«, fand Kelsen eine neue Wirkungsstätte. Dorthin folgte ihm nach einem Zwischenaufenthalt im Elsaß und in Paris auch der ebenfalls ins Exil geflüchtete Hans Mayer. Er schrieb Beiträge zur Zeitgeschichte und für das »Institut für Sozialforschung« eine Studie zur Staats- und Rechtslehre des dritten Reiches.[6]

Reine Rechtslehre (Foto: HB)

Am »Hochschulinstitut für internationale Studien« lernte Mayer einen weiteren seiner wichtigsten Lehrer kennen: Carl J. Burkhardt. In dessen Beitrag zu Hans Mayer 60. Geburtstag hatte dieser festgestellt: „Seit seiner Ankunft in der traditionellen Freistadt hatte er sich in der kühlen Höhenluft der <Reinen Rechtslehre> Hans Kelsen bewegt und er hatte, ausgehend von einer hypothetischen Urnorm, den von allen psychologischen und politischen Erscheinungen abstrahierten Staat überdacht, der mit der Rechtsnorm gleichgesetzt wurde.“[7]Burkhardt hat dann bei Mayers Wechsel zur Literaturwissenschaft Pate gestanden und sein berühmtes Georg-Büchner-Buch kritisch und fördernd begleitet. „Die langsam entstehenden Kapitel durfte ich Carl Burkardt vorlesen. Es war mehr als Höflichkeit, das merkte ich bald, wenn er zustimmte und Mut machte zum Durchhalten. Als Burkhardt nach Danzig berufen wurde, war ich schon über dem Berg und konnte das Buch abschließen. Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. Ohne meinen Lehrer Burkhardt hätte ich vermutlich aufgegeben.“[8]

Kelsen war von 1936 bis 1939 auch Professor an der Universität in Prag. Er emigrierte dann im Alter von fast 60 Jahren in die USA, wo er bis 1952 als Professor tätig war. Danach folgten noch zahlreiche Reisen auch nach Österreich, wo das antisemitische Denken gegen ihn auch in den 60er Jahren noch weiterlebte.

Bis zu seinem Tod im April 1973 beschäftigte sich Kelsen mit seiner Strukturtheorie des Rechts aber auch mit zahlreichen Aspekten der internationalen Friedens- und Rechtsordnung. Seine Arbeit war prägend für zahlreiche Länder der Welt. Sein Kommentar zur Charta und zum Recht der UNO gilt als Standardwerk. Für den Verfassungsmacher wurde 1971 das von der österreichischen Bundesregierung gestiftete »Hans-Kelsen-Institut« in Wien gegründet. Er hat an die 600 Publikationen hinterlassen. Zu seinen wichtigsten Werken gehören neben der Reinen Rechtslehre (1934 und 1960), Sozialismus und Staat (1923), Allgemeine Staatslehre (1925), Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage 1929), Was ist Gerechtigkeit? (1953), Principles of International Law (1966), Allgemeine Theorie der Normen (1979) und Die Illusion der Gerechtigkeit (1985).

Verfassungsmacher       (Foto: HB)

Viele Herausforderungen, denen wir heutzutage begegnen (antiliberale Tendenzen, populistische Bewegungen, Anti-Intellektualismus, Debatten um das Wesen der Demokratie usw.), sind ähnlich mit denen für die Kelsen seine Theorien entwickelte. Wie wichtig und lesbar seine Werke auch heute noch sind, macht ein Ausspruch des Österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in der Ausstellung im Juridicum deutlich, der die Bundes-Verfassung „für ihre Eleganz und Schönheit“ lobt.[9]

[1] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 150
[2] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ditzingen 2018
[3] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig /Wien 1934, Wien 1960. Einen guten zusammenfassenden Überblick zu diesem Werk geben Andreas Kley und Esther Tophinke in ihrem Aufsatz „Hans Kelsen und die Reine Rechtslehre“ in der JA 2001, Heft 2, S. 168-174
[4] Joachim Perels, Der Grenzdenker, in Frankfurter Rundschau Freitag, 29. März 1996
[5] Siehe Endnote 2
[6] Siehe Ein Deutscher auf Widerruf, S. 208
[7] Carl J. Burkhardt, Der junge Hans Mayer, in Hans Mayer zum 60. Geburtstag, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 13
[8] Ein Deutscher auf Widerruf, S. 215
[9] Siehe http://tinyurl.com/3kn8jad3

 

«Durch Wissen und Wärme aufklärerisch beeinflussen» Nachruf auf Alfred Grosser (1925-2024)

Am Tag nach dem Brand von Notre-Dame in Paris 2019 waren der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, Heinrich Bleicher und der Autor dieses Nachrufs, bei Alfred Grosser zu einem Gespräch geladen. Eigentlich sollte es um seine Zusammenarbeit mit Hans Mayer gehen, aber dann standen doch Notre Dame und der jüngst in Aachen unterzeichnete deutsch-französische Vertrag im Mittelpunkt unseres Gesprächs: Brexit, Europe, Paris et Berlin: Alfred Grosser répond à nos questions (19. April 2019)

Besuch bei Grosser im April 2019 ( Foto: HW)

Der Politologe, Historiker und Publizist Alfred Grosser ist am 7. Februar 2024 kurz nach seinem 99. Geburtstag in Paris verstorben. Er hat sein Leben dem Verhältnis und ständigem Austausch zwischen Frankreich und Deutschland gewidmet. Und er hat mehrere Generationen der Frankreich- und Deutschlandforscher geprägt. Keinem Politologen oder Historiker beider Länder ist er nicht über lange Jahrzehnte vertraut gewesen. Zu seinem 99. Geburtstage formulierte der Korrespondent von Radio France Internationale Pascal Thibaut in einem Tweet eine der zutreffendsten Würdigungen seines Lebenswerks in einem Satz: „Alfred Grosser, notre père a tous dans le monde franco-allemand fête ses 99 ans!“

Das stimmt so: Er war unser aller Wegbegleiter, er war Mahner, Mittler und ein scharfsinniger Beobachter, freundschaftlich aufgeschlossen aber auch scharfsinnig kritisch, wenn es galt, Ungereimtheiten oder Inkohärenzen in seinem eigenen Land, in Frankreich, oder in Deutschland aufzudecken. Über vierzig Bücher hat er veröffentlicht, darunter die Deutschlandbilanz (1970), die Grundlage meiner Kenntnisse über die bundesdeutsche Geschichte nach 1945. 36 Jahre lehrte er am Institut d’Etudes Politiques de Paris („Sciences Po“), von 1966 bis 1980 als Professor. Seit 1993 gibt es dort einen Lehrstuhl „Alfred Grosser“, der jedes Jahr neu besetzt wird.

Wohlverdiente Ehrungen haben sein Lebenswerk gewürdigt, so unter so vielen anderen 1975 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels oder 2019 die Verleihung durch Emmanuel Macron im Palais de l’Élysée der höchsten Stufe der Ehrenlegion, des Großkreuzes Ehrenlegion mit Stern und Schulterband.

Alfred Grosser hatte eine stete Lust zum Widerspruch. Den Kontrahenten in der Diskussion auch mal den Standpunkt ihrer Gegner zu erklären. Ein Mittler zwischen beiden Ländern zu sein, das war die Lebensaufgabe, die er sich erwählt hatte.

Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren. Seine Familie ging 1933 nach Frankreich in die Emigration, nachdem das Nazi-Regime dem Vater Paul Grosser, Professor für Kinderheilkunde, die Lehre verboten hatte. Traurigerweise verstarb der Vater 1934 in Paris. 1937 wurde seine Mutter Lilly mit ihren Kindern in Frankreich eingebürgert. 1941 starb seine Schwester Margarete nach einem Fahrradunfall. Er studierte Germanistik und wurde 1955 Professor am Institut d’Études Politiques (Sciences Po) in Paris.

Vortrag Grossers im Literaturhaus in Stuttgart     (Foto: Heiner Wittmann)

Er reist sehr oft nach Deutschland zu Vorträgen, Diskussionen, Buchvorstellungen, zur Teilnahme an „Höfers Frühschoppen“ und vielen anderen Veranstaltungen, z B. im Literaturhaus in Stuttgart am 22.6.2017. Ganz oft war die Bedingung um anzureisen, der Besuch in einer Schule, um mit Schüler*innen zu diskutieren, so kam es auch zur Diskussionsrunde mit Alfred Grosser im Rückert-Gymnasium, Berlin im Februar 2015. Im Deutschen Bundestag hat er dreimal gesprochen: 1974 zum Volkstrauertag, 1999 und 2014 anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges: > Gedenkstunde im Bundestag: 1914-1918: Alfred Grosser hat am 3. Juli 2014 im Bundestag gesprochen.

1976 begann ich mit dem Studium in Paris und kam in der Rue Saint-Guillaume an, das Buch mit seinem Foto in der Tasche und hörte seine Vorlesungen in Sciences Po Mittwochs um 10 Uhr: Introduction à l’étude de la vie politique und am Donnerstag um 10 Uhr L’Allemagne de notre temps.

Die chemise, der Aktendeckel, war sein wichtigstes Hilfsmittel in den Vorlesungen. Er kam herein, legte die chemise auf die erste Bankreihe und begann oft mit einem Zeitungartikel, den er gerade aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte, oft um zu zeigen, dass ein Journalist wieder einmal nicht alle Aspekte berücksichtigt hatte.

Das ständige Lernen, aufmerksam sein: Lesen Sie, was nicht in dem Artikel steht, pflegte er uns zu erklären, und schimpfte erstmal auf sich selbst. Gestern habe ich das nicht beherzigt… das lange geplante Institut in Paris, kommt jetzt endlich… und über die Zeitungsmeldung habe ich mich gefreut und sie nicht genau gelesen… das Wörtchen Paris fehlte und eine andere Stadt wurde nicht genannt, nun es kommt nach Straßburg… das nächste Mal lesen Sie bitte, was nicht im Artikel steht, lautete seine Botschaft.

Oder eines Morgens kamen wir zusammen am Eingang von Sciences Po an: Er sagte Baader ist tot, ich sagte, wie konnte das passieren? Er. Nein, sie müssen eine andere Frage stellen: Wie kam die Pistole in die Zelle?

Wie oft musste ich bei seinen Vorlesungen und unseren späteren Begegnungen voll Respekt daran denken, dass Alfred Grosser von 1947 an 20 Jahre lang an der Leitung Comité d’échanges avec l’Allemagne nouvelle beteiligt war. Er gehörte zu den Initiatoren der deutsch-französischen Aussöhnung. Wem denn als ihm gebührte eine große Aufmerksamkeit das besondere Gut der deutsch-französischen, Aussöhnung, Kooperation und Freundschaft nicht zu vernachlässigen?

Mehrmals durfte ich ihn in den letzten Jahren zu Hause besuchen. Wir tauschten gemeinsame Erinnerungen aus: Mein Blog mit tausenden Artikeln auf Französisch und Deutsch ist das Ergebnis seiner Lehre. “Ach schon wieder ein Interview (Die deutsch-französischen Beziehungen und die Europapolitik. Ein Gespräch mit Alfred Grosser, 13. September 2013 von H. Wittmann), das haben wir doch neulich erst gemacht. Die Fragen vorher besprechen? Nein, nein, fangen Sie an.” Nach dem Interview ging er in sein Büro und kam wieder und überreichte mir eine Sondermarke mit einer romanischen Kirche und fragte nach: “Sie besuchen doch immer wieder diese Kirchen in Frankreich?”

Am Ende seines Buches Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz[1], zitiert Grosser die Worte eines seiner liebsten Romanhelden Jean Barois in dem gleichnamigen Roman von Roger Martin du Gard: “«Ich bin mit Vertrauen in mich selbst, in das alltägliche Bemühen, in die Zukunft der Menschheit geboren. Ich habe mich ohne Schwierigkeit immer im Gleichgewicht gehalten. Mein Geschick war das eines Apfelbaums auf guter Erde, der regelmäßig seine Früchte trägt.» In diesem Sinn und solange ich geistig und körperlich dazu imstande bin, würde ich gerne weitermachen. So lange hoffe ich auch, die Freude beizubehalten. Bis zum unausweichlichen, nicht erwünschten, aber auch nicht befürchteten Tod.“

Heiner Wittmann

[1] Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek bei Hamburg 2011. Vom Klappentext dieses Buches stammt auch der Titel dieses Nachrufs. Grosser hat diese Formulierung eines Journalisten gern angenommen: Dies ist in der Tat mein ständiges Ziel.

Hier findet sich eine informative Kurzfassung von einem längeren Interview, dass Heiner Wittmann mit Alfred Grosser geführt hat.

Hans Mayer: Shakespeare und die Deutschen

Kaum zu glauben, ein Buch mit Texten von Hans Mayer, die noch nicht veröffentlicht waren, ist jetzt erschienen.[1] Zu danken dafür ist Professor Christa Jansohn, die den Text einer WDR-Sendefolge von Hans Mayer zum Jubiläumsjahr 1964 jetzt herausgegeben hat.

In ihrem Vorwort stellt sie heraus: „Dem Germanisten Mayer ging es dabei nicht allein um Shakespeare als ein deutsches Phänomen, vielmehr exemplifizierte er an einer gut ausgewählten Auswahl von Schriften und Übertragungen aus der Deutschen Aufklärung, über Texte aus dem Sturm und Drang, der Goethe-Zeit, der Romantik, der deutschen Aufklärung bis hin zu expressionistischen und zeitgenössischen Werken, wie diese durch Shakespeares Werke inspiriert bzw. ausgelöst wurden.“

Und weiter: „Mit Mayers Ausführungen erhält man aber auch einen prägnanten Überblick über die eigentlichen Entwicklungsprozesse der Kunstauffassungen in Deutschland. Darüber hinaus erfährt der Hörerkreis bzw. das Lesepublikum auch etwas über die verschlungenen Wege, die schließlich zur Hochstilisierung des britischen Dramatikers als “unser Shakespeare” oder gar als “Dritter deutscher Klassiker” geführt haben, wie sie sich zumal um die Mitte des 19. Jahrhunderts kräftig manifestierte, aber auch heute noch nicht ganz verklungen ist.“

In der Einleitung zu der Sendefolge, die im WDR vom 7. Juni bis 26. Juli 1964 in einer Länge von jeweils 45 Minuten sonntags ab jeweils 11 Uhr übertragen wurde, stellt Heinrich Bleicher, Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft das Gesamtkonzept vor:

„… Mayer betritt raschfüßig den Hörsaal 40, hat es noch auf dem Podium sehr eilig, endlich hinter dem Pult angelangt, beginnt fixes Sprechen. Sehr gespannte Stimme, könnte leicht reißen, phonetisch explosiv. Schöne Jahrhundertdurchblicke.“[2] So charakterisiert Uwe Johnson seinen Lehrer an der Uni in Leipzig. 1963 hat Professor Mayer die Stadt und damit auch die DDR verlassen. Nach Auffassung der herrschenden Partei gab es „eine Lehrmeinung zu viel“.

In der BRD hielt Hans Mayer Vorträge, nahm an Tagungen teil und schrieb Features und Rezensionen. Große Freude bereitete ihm ein Auftrag von Roland Wiegenstein, der damals das Kulturprogram des Westdeutschen Rundfunks leitete: Eine achteilige Sendereihe über »Shakespeare und die Deutschen«.

Es ging ihm in den Beiträgen zum 400. Geburtstag Shakespeares 1964 nicht darum Shakespeare-Philologie zu treiben, oder die Frage deutscher Shakespeare-Übersetzungen zu thematisieren. Er wollte Shakespeare und seine Rezeption im Lauf der Jahrhunderte „als auslösendes Moment für den Reichtum deutscher Dichtung, Kulturkritik (und) Sprachkunst … erschließen“[3]. In jeder Sendung diente dafür nicht nur das jeweilige Selbstverständnis der deutschen Autoren, sondern auch ein ebenfalls hinzugefügter Beleg „einer besonders kennzeichnenden Deutung eines einzelnen Shakespeare-Werkes.“

Mit seiner Betrachtungsweise schließt sich Mayer dabei einer Interpretation von Theodor Wilhelm Danzel an, der 1850 in seinem Beitrag »Shakespeare und noch immer kein Ende« feststellte: ‟Die Geschichte Shakespeares in Deutschland ist im Grunde nichts anderes als ein kurzer Abriß der hauptsächlichsten dichterischen Gesichtspunkte, die in Deutschland in den letzten siebzig Jahren geherrscht haben”.[4] Diese Sichtweise ist für Mayer auch in den darauf folgenden Jahren bis in die Gegenwart gültig, ist doch die Reflektion der angeführten Dichter über Shakespeare für Mayer seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch „immer wieder ein Thema deutscher künstlicher und kritischer Selbsterkenntnis.“

Der zeitliche Bogen der Geschichte der deutschen Shakespeare-Rezeption spannt sich von Andreas Gryphius bis Günter Grass.

Zum Abschluss der Einleitung heißt es dann:

Äußerst interessant und reizvoll wäre eine Fortsetzung des Themas „Shakespeare und die Deutschen“ unter Bezug auf die Shakespeare-Übersetzungen und deren Rezeption am Beispiel der Übertragungen von Erich Fried[5] und Frank Günther[6].

Zum Zeitpunkt der Senderreihe waren beide Übersetzerwerke noch nicht erschienen. Natürlich kannte Hans Mayer später Erich Frieds Übersetzungen. In der Gedenkrede auf Erich Frieds Trauerfeier im Wiener Burgtheater am 11. Dezember 1988 hob er „den neuen deutschen Shakespeare; den er uns vermachte hervor.“[7] Gern hätte er eine Übersetzung Frieds von Marlowes Eduard II. gelesen, „weil das „Original des Elisabethaners unendlich stärker ist als die Bearbeitung durch Brecht.“[8] In dem Begleitbuch zu Erich Frieds Shakespeare-Übersetzungen findet sich auch ein Artikel von Peter Demetz mit dem Titel „Shakespeare für alle“, der mit den Worten endet: „Frieds Übersetzung entdeckt uns, indem sie den Nerv unserer historischen Erfahrungen trifft, das wir dem Schrecken archaischer Zeiten, die nicht die goldenen waren, näher stehen, als wir je glaubten.“[9]

Die vollständige Einleitung kann hier geladen werden: Jahrhundertdurchblicke zu Shakespeare

Das Buch kann im LitVerlag bestellt werden.

[1] Hans Mayer, Shakespeare und die Deutschen. Eine Sendefolge von Hans Mayer, herausgegeben von Christa Jansohn und mit einer Einleitung von Heinrich Bleicher, Münster 2023.
[2] Uwe Johnson – Einer meiner Lehrer, in: Über Hans Mayer Herausgegeben von Inge Jens, Frankfurt am Main 1977, S. 75.
[3] Alle nicht eigens nachgewiesenen Zitate finden sich in den jeweils angesprochenen Sendefolgen.
[4] Danzel, Theodor Wilhelm: Shakespeare und noch immer kein Ende. Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Hg. von Hans Mayer (Stuttgart: Metzler, 1962), S. 247-285.
[5] Erich Fried, Shakespeare, 3 Bände, Nördlingen 1995, Lizenzausgabe für Zweitausendeins mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach und einem Begleitband herausgegeben von Friedmar Apel.
[6] Wilhelm Shakespeare, Gesamtausgabe in 39 Bänden, München 2000 und folgende übersetzt von Frank Günther und Christa Schünke (Band 39). In dem Essay von Manfred Pfister zu der Coriolan-Übersetzung von Frank Günther wird z.B. herausgearbeitet, wie der aktuelle politische Wirkungsbezug sich niederschlägt und Neuerungen provoziert. Manfred Pfister, Der Coriolan-Komplex, in: William Shakespeare Gesamtausgabe, Band 31, S. 310-332, hier: S.314ff.
[7] Hans Mayer, Dem Andenken Erich Frieds, in: ders., Über Erich Fried, Hamburg 1991, S. 48.
[8] Ebenda. Siehe auch das Kapitel Marlowe und Shakespeare in: Hans Mayer, Aussenseiter, Frankfurt am Main 1975, S. 18-22.
[9] In: Ein Shakespeare für alle, herausgegeben von Friedmar Apel, Berlin 1995, S. 36.

„Die Weltdeutung des Jean-Paul Sartre“

Hans Mayer über das Werk Jean-Paul Sartres

Heiner Wittmann

Von Hans Mayer liegen neun Aufsätze vor, in denen er sich zum Werk von Jean-Paul Sartre äußert. Viele andere Hinweise auf Sartre in seinem Gesamtwerk belegen, dass er sich immer wieder mit dem französischen Philosophen beschäftigt hat. 1963 übersetzte er Sartres Die Wörter und mit seiner Nachbemerkung erläuterte er in besonders einleuchtender Weise ihre Bedeutung für Sartres Gesamtwerk.

Sartres Vorstellungen kurz und prägnant zusammenzufassen und die eigene Kritik an ihm begründen, das hatte Mayer sich schon früh vorgenommen. Er hätte, wie so viele Autoren es vor und nach ihm getan haben, längere Interpretation von Sartre vorlegen können, es ist aber gerade die Kürze und die Hellsichtigkeit, die seinen Texten ihre besondere Bedeutung verleihen.

Der Band Anmerkungen zu Sartre[1], der 1972 in Reihe opuscula bei Neske erschienen ist, enthält Mayers Aufsätze zu Sartre mit einem Vorwort „Anmerkungen zu den Anmerkungen“. Er möchte dieses Buch als „einer Art von Tagebuch, geführt über Jahrzehnte hin“, das sich „um die Bücher eines einzigen Verfassers kümmert,“ (S. 9) verstanden wissen. Die Wirkungsgeschichte auf ihn selber, wie Mayer sie hier andeutet, soll hier dargelegt werden.

Mayer möchte keine Kritiken addieren, sondern darüber berichten „Weil derjenige, der hier schreibt, beim Kontakt mit den ersten Arbeiten Sartres, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre jäh erkannte, „diese Art des Denkens gehe ihn an“. Es fordere zur Auseinandersetzung auf, „darum wurde von nun an kritisch Buch geführt über den Philosophen, Erzähler, Dramatiker, Kritiker und Politiker Jean-Paul Sartre.“ (ib.)

Zuerst entstand 1944 eine erste Bilanz: Die Weltdeutung des Jean-Paul Sartre“, die in diesem Band unter der Überschrift „Die Anfänge“ wiederabgedruckt wird. Er hatte später die Absicht, ein Buch über Sartre und Camus zu verfassen, das nie über den hier vorliegenden Text „Sartre und Camus“ hinauswuchs, zumal durch dem Unfalltod Camus‘ 1960 „die geplante Dauerkonfrontation eines kritisch reagierenden Lesers mit zwei Zeitgenossen“ plötzlich zu Ende war. (S. 10)

Hans Mayer nennt das, was Sartres erste Arbeiten bei ihm hervorriefen und auch das, was Sartre in den siebziger Jahren seinem Land und seinen Landsleuten zufügte, einen „Schock“. Das Theater komme in seinen Anmerkungen zu kurz, bedauerte Sartre, ebenso wie Saint Genet. Comédien et martyr, mit dem die Sartre-Forschung noch immer nicht so recht was anfangen könne – was sich mittlerweile geändert hat[2], so darf man jetzt hinzufügen. Immerhin, Mayer bezeichnet den Saint Genet als „ein Schlüsselwerk auch für die Entwicklung des Erzählers Sartre, der keinen Roman mehr schreibt, sondern stattdessen real-imaginierte Monographien.“ (ib.) Tatsächlich belegen alle Porträtstudien Sartres über Baudelaire, Mallarmé, Flaubert und Tintoretto sowie die Vorworte zu Calder, Giacometti, Wols u.a. sein ausgeprägtes Interesse für die Kunst, die übrigens als zentraler Bezugspunkt seines Gesamtwerks zu verstehen sind.[3] Dann folgt noch ein Text über Sartres Flaubert-Studie. Die Nachbemerkung zu Die Wörter wurde, wie Mayer unterstreicht – weil es keine Anmerkung gewesen sei – in diesen Band nicht aufgenommen.

1944 in Die Anfänge nennt Hans Mayer die Werke Sartres bis 1944: Der Ekel von 1938, die Novellen in dem Band Die Mauer, Texte über Schriftsteller wie William Faulkner, Dos Passos und Jean Giraudoux, dann Das Sein und das Nichts von 1943 und Die Fliegen. „Alle hängen innerlich zusammen…,“ (S. 12) schreibt Mayer und meint damit Literatur, Romane, Novellen und Theater sowie die Philosophie in Sartres Werk. Sogar der dritte Teil, die Studien über Schriftsteller wird hier genannt. Abgesehen von seinen politischen Stellungnahmen, die sich von 1947-1949 häufen werden, sind bis 1944 alle Themen in seinem Werk benannt. Seine Werke wirken und beunruhigen, „wo von ihren wahren Abgründen nichts geahnt wird,“ warnt Mayer und eine solche Anmerkung ist dazu geeignet, die Aktualität von Sartres Denken auch für heutige Leser zu unterstreichen.

Dann erweitert er die Perspektive auf Sartres Werk: „Der Abgrund aber ist weit geöffnet unter diesem Werk. Er ist total, denn er ist identisch mit dem Dasein selber.“ (S. 12) Was meint Mayer hier mit dem Abgrund? Wenn er Sartre die Auffassung zuschreibt, das Dasein an sich sei sinnlos, dann klingt das nach „Lasst alle Hoffnung fahren“, wie Dante es über die Tür zur Hölle geschrieben hat. Ist dieser Pessimismus gerechtfertigt, lässt sich diese Sinnlosigkeit im Werk Sartres erkennen? Bevor wir weiterlesen, erinnern wir uns an die Autodidakten in Der Ekel, wo Roquentin selbstsicher erklärt, das Leben habe den Sinn, den man bereit sei, ihm zu geben. Das kommt bei Mayer gar nicht gut an, er nimmt dem Autodidakten, den er einen „traurigen Pathologen“ nennt, das nicht ab. Die „existentielle Übelkeit, der Ekel“ (ib.) bleibt. Das Sein ist „bare Willkür“ nirgendwo ist Sinn, Mayer bleibt kategorisch, wenn er Sartre liest.

Was ist aber mit Roquentin, der nach dem Abbruch der Biographie über Rollebon nach Hause fährt und sich sagt, er müsse ein Buch schreiben, das so hart wie Stahl sei und den Leuten die Schamröte wegen ihrer Existenz ins Gesicht treiben würde. Dieser Gedanke, mit dem Sartre seine Ästhetik prägnant zusammenfasst, klingt so gar nicht nach Sinnlosigkeit. In einem Gespräch mit Hans Mayer könnte man diesem Freiheit, Wahl, Engagement und Verantwortung als Konzepte der Sartreschen Philosophie entgegenhalten. Bevor wir weiterlesen, noch eine Erinnerung an diesen gerade zitierten Satz, Mayer sprach gerade von einem Abgrund: „Er ist total, denn er ist identisch mit dem Dasein selber.“ Damit relativiert er diesen Schock, diesen Abgrund. Denn es geht tatsächlich um das Dasein in bester philosophischer Manier. Die Existenz des Menschen in all ihren Formen, das ist das Thema des Sartreschen Werkes, zusammengefasst in dem Moment, als Roquentin unter der Kastanie über die Existenz, seine und die aller nachdenkt.

Lesen wir weiter. Mayer bleibt keineswegs bei seinem ersten Eindruck, das Dasein entziehe sich allen Kategorien. Jetzt sprich Mayer von einem anderen Sartre: „der Nihilismus dient der reinlichen Scheidung der Sphären,“ (S. 13) gibt er zu, „Der Pessimismus war denknotwendig, nicht affektiv,“ erklärt er. Dann deckt Mayer den dritten Werkteil bei Sartre auf: „Neben das sinnlose Sein tritt der sinnlose Sinn: die Kunst.“ Auch wenn es wenige Autoren gab, die beim jungen Sartre sein Interesse für die Kunst erkannten, so dürfen hier eigentlich keine Einzelsätze von Mayer zitiert werden, weil sonst leicht ein schiefes Bild seiner Argumentation entstehen könnte.

Nebenbei bemerkt, die Kunst spielt eine ganz besondere Rolle im Zusammenhang mit den Bemerkungen über die Freiheit am Ende von Das Imaginäre. Und schon vorher, wenn es um das Denken in Bildern geht, wie Sartre es 1926 in seiner Studienabschlussarbeit anhand des Aufsatzes von Auguste Flach untersucht hat. In Das Imaginäre wird die Entwicklung seiner Auffassung über die besondere Bedeutung der Kunst augenfällig und steht zusammen mit der Freiheit Pate bei der Entstehung von Das Sein und das Nichts. Die absolute Sinnlosigkeit, so wie Mayer sie sieht, kann in diesem Zusammenhang nicht geteilt werden, allenfalls so, dass Mayer seine Sicht auf die Existenz als solche beschränkt, der aber, so Sartre, die Freiheit hinzugefügt werde muss.

Mayer (vgl. S. 13) sagt „Weil alles geistig Geschaffenes als Nicht-Wirkliches auftritt, wird es notwendig,“ und interpretiert so Sartres Ansatz, mit dem dieser die Überschreitung einer Situation erläutert. Die Fliegen fügen, so Mayer, einen ethischen Aspekt zu Sartres Werk hinzu. Dem Menschen gelingt es, sich von einer göttlichen Sphäre aus eigener Kraft, ohne Gewissensbisse, zu lösen. Es gibt keinen göttlichen Weltplan mehr, die Götter werden vertrieben. Die Angst habe die Stadt verlassen, aber das Handeln bestimmt weiterhin die Menschen. Mayer zeigt, dass die Tat dem Leben einen Sinn vermittle. Es geht aber auch hier schon um eine Bestimmung der Ästhetik, die Frage nach ihrer Wirkung bleibt noch offen, steht die von Mayer gestellte Frage: „Ist Orest ein Held oder ein Verbrecher?“ (S. 15) noch im Raum.

Dieser Text ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis, mit dem Mayer seine Entdeckung des jungen Sartres dokumentiert. Zunächst der Schock durch das Nichts, die Existenz ohne alles, bar jeden Zieles, Dann die Handlungen, Äußerungen, Aktionen der Menschen und das Stichwort der Kunst, die von so vielen Interpreten so lange übersehen wurde, weil sie sich oft entweder auf die Philosophie oder auf die Literatur in seinem Werk konzentriert haben. Das war auch ertragreich, ganze Bibliotheken sind mit Sekundärliteratur zu Sartre gefüllt. Die Zusammenhänge zwischen Philosophie und Literatur in seinem Werk wurden angedeutet; aber oft nur nebenbei und nicht auf grundsätzliche Art. Mayer gibt hier das Stichwort. Es ist die Kunst, die Sartre nutzt, um seine philosophischen Konzepte in der Literatur einzuführen und zu überprüfen. Noch ist das wohl nicht eindeutig zu erkennen, aber Mayer weist den richtigen Weg.

Der komplette Text kann hier geladen werden: 2023-11-02_Die Weltdeutung des JPS

[1] Hans Mayer, Anmerkungen zu Sartre, Pfullingen 1972. Anmerkungen aus diesem Buch sind im folgendem im Text mit der jeweiligen Seitenzahl eingefügt.

[2] Heiner Wittmann, Saint Genet, oder wie macht ein Individuum aus sich einen Künstler, in: id. Sartre, Camus und die Kunst. Die Herausforderung der Freiheit. Reihe Dialoghi/Dialogues. Literatur und Kultur Italiens und Frankreichs. Hrsg. v. Dirk Hoeges, Band 18, Berlin, Bern u.a., 2020, S. 79-87.

[3] Heiner Wittmann, Sartre et la liberté de la création : l’art entre la philosophie et la littérature. in: G. Farina, M. Russo, (Hg.), Sartre et l’arte contemporanea. Immagini e imaginari, dans: Gruppo Ricerca Sartre, Studi Sartriani, Anno XV / 2021, S. 83-102. Online: https://romatrepress.uniroma3.it/libro/studi-sartriani-xv-2021-sartre-e-larte-contemporanea-immagini-e-immaginari/.

Anne Bendel: Im Erfahrungsraum des Archivs

Hans Mayer. Ein Nachlass auf Widerruf

Im Verlag machiavelli edition in Köln ist eine Untersuchung von Anne Bendel erschienen, die die Funktion und Bedeutung von Literatur-Archiven in den Blick nimmt: „Diese Studie schlägt vor, die Literatur als mögliche Gegen-Erfahrung zum Archiv zu begreifen,“ steht auf der Umschlagseite des Buches, in dem sie sich im zweiten Teil ausführlich mit dem Nachlass des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Hans Mayer (1907-2001) beschäftigt. Es ist ein Glücksfall für unsere HMG, dass nun eine so detaillierte Untersuchung zum Nachlass von Hans Mayer und dessen Nutzbarkeit vorliegt. Und Anne Bendel stellt die richtigen Fragen, um der Bedeutung seines Nachlasses auf den Grund zu gehen. Ist das Archiv der geeignetste Ort, um Erinnerung am Leben zu erhalten? Oder ist die Literatur der Ort, der die Lücken des Archivs zu schließen vermag? Mit Bezug auf Hans Mayer ist eine Fragestellung zentral: Ist Hans Mayers Nachlass, dessen Leben seit der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 durch die Nazis im Zeichen des Widerrufs stand und dessen Nachlass vom Einsturz des historischen Archiv Köln im Frühjahr 2009 betroffen war, ein Nachlass auf Widerruf? (Bendel, S. 18)

Geschickt verknüpft Anne Bendel ihr Wissen zum Nachlass von Hans Mayer mit biographischen Angaben aus seinem Leben und mit Interpretationen seiner Werke. Ihre vorzüglichen Kenntnisse der Werke Mayers machte diese Untersuchung zu einem großen Gewinn für die Arbeit unserer Hans-Mayer-Gesellschaft: „Den Fall Hans Mayer habe ich aus dem Grunde gewählt, weil dieser nicht nur politisch, sondern auch archivologisch interessant ist. Hans Mayer hat – und dies ließe sich durchaus konstatieren – als einer der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts all das miterlebt und durchlitten, was eben dieses konfliktreiche Jahrhundert ausmacht.“ (Bendel, S. 397)

Heiner Wittmann hat mit Anne Bendel über ihr kürzlich in der machiavelli edition in Köln erschienenes Buch, über die Archivarbeit und Hans Mayer gesprochen:

„Frau Bendel, Sie arbeiten als freischaffende Archivarin. Sie haben gerade im Verlag machiavelli edition in Köln ein Buch über Hans Mayer veröffentlicht: „Im Erfahrungsraum des Archivs. Hans Mayer: Ein Nachlass auf Widerruf“. Was ist das Besondere an einem Archiv und wieso verknüpfen Sie das Archiv so eng mit dem Werk von Hans Mayer?

Zunächst halte ich das Archiv für etwas sehr Dynamisches. Es ist nicht der Ort, der die Vergangenheit entschlüsselt oder an dem wir Antworten finden, sondern ein Ort von vielen. Zudem ist das Archiv stets in Veränderung, auch wenn wir manchmal glauben, dass es etwas Abgeschlossenes wäre. Das Archiv hat für mich etwas sehr Zukünftiges, weil wir durch die Öffnung oder Schließung von Archiven (z.B. durch Sperrfristen) Wege in die Zukunft möglich oder unmöglich machen – zumindest für eine bestimmte Zeit. Das Archiv erlaubt einen doch sehr spezifischen, etwas überspitzt gesagt, vielleicht sogar beengten Blick auf Vergangenes. Das hat auch rechtliche Gründe, auf die ich hier im Detail aber nicht eingehen will. Lassen Sie mich dies kurz am Beispiel Hans Mayer ausführen. Im Fall Hans Mayer haben wir Dokumente, die es eigentlich nie hätte geben dürfen – aus der Zeit der Observation durch die Staatssicherheit der ehemaligen DDR… .  Bitte lesen Sie weiter.

Anne Bendel
Im Erfahrungsraum des Archivs.
Hans Mayer. Ein Nachlass auf Widerruf
343 Seiten

ISBN 9-783949-89805-1 € 29.00 [D]
Bestellung per Mail an:
mail@machiavelli-edition.com

Zeitgenosse Horkheimer

Vor 90 Jahren wurden viele Intellektuelle, Schriftsteller*innen, Künstler*innen aber auch politische Feinde der Nazifaschisten ins Exil gezwungen. Entscheidende Daten waren die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, der Reichstagsbrand vom 27. auf den 28. Februar und auch die Bücherverbrennung am 10. Mai in Berlin[1]. In Köln war Hans Mayer nicht mehr sicher. Die Nazis hatten ihm schon einmal aufgelauert und ihn zusammengeschlagen. Der Grund: Er hatte als Gerichtreferendar an einem Prozess gegen Robert Ley, den Kölner Gauleiter und Herausgeber des »Westdeutschen Beobachters« teilgenommen. Es war klar, dass man ihn suchen und festnehmen würde, zumal er als »Roter Kämpfer« und führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in Köln verhaftet werden würde.[2]

Gerade noch rechtzeitig, bevor im April „die Braunen ihn abholen wollten“[3] war Mayer von Köln zum Abschluss des 2. Staatexamens nach Berlin gereist. Die Prüfung hatte er bestanden, doch der dort ebenfalls anwesende damalige Staatsekretär Roland Freisler teilte ihm mit, dass er die Entlassungsurkunde als Gerichtsreferendar erhalten würde.[4] Mit Hilfe von Freunden aus der KPD-O und durch seinen Vater gelangte Mayer von Berlin in die Eifel und von dort über die Grenze nach Belgien und ins französische Elsaß. Von dort ging es Anfang 1934 weiter nach Paris.

Dort traf er Ende 1934 im Hotel Lutézia wohnend Max Horkheimer. Dieser hatte ihn auf Empfehlung Hans Kelsens, der in Genf im Exil lebte, aufgesucht. In Genf hatte auch das aus Frankfurt emigrierte Institut als »Institut de Recherches Sociales« vorübergehend einen Aufenthaltsort gefunden. Horkheimer wollte den jungen Doktor der Rechte für die Mitarbeit an der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung gewinnen wollte. Das Gespräch der beiden war das bis dahin nur gering erforschte Phänomen der Autorität. „ … was sich gegenwärtig in Deutschland und Italien, demnächst wohl auch in anderen Teilen der Welt abspiele, hänge aufs engste mit Phänomenen der Autorität in der bürgerlichen Familie zusammen. Autorität und Familie: diesem Zusammenhang versuchte ein Arbeitsprojekt des Institutes beizukommen…. Ich bekam den Auftrag, da der mächtige Mann aus Genf offensichtlich einen Versuch mit mir wagen wollte, die Zusammenhänge zwischen Autorität und Familie in der Theorie und Bewegung des Anarchismus zu untersuchen. Am Ende des Gesprächs hatte ich einen Forschungsauftrag für sechs Monate erhalten.“[5]

Die gesamte Studie über »Autorität und Familie« ist dann 1936 in Paris als 1. Forschungsbericht des Institutes erschienen. Dieses selbst war inzwischen mit Hauptsitz in New York angekommen, wo Horkheimer 1935 das Vorwort verfasst hatte. Zu den auch in der Untersuchung enthaltenen Enquêten erklärt Horkheimer: „… die Umfragen waren nicht als Mittel beweiskräftiger Statistik gedacht, sie sollten uns mit den Tatsachen des täglichen Lebens in Verbindung halten und jedenfalls vor weltfremden Hypothesen bewahren. Vor allem jedoch sind sie dazu bestimmt, eine fruchtbare Typenbildung zu ermöglichen; die charakterologischen Einstellungen zur Autorität in Staat und Gesellschaft, die Formen der Zerrüttung der familialen Autorität durch die Krise, die Bedingungen und folgen straffer oder milder Autorität im Hause, die in der Öffentlichkeit herrschenden Ansichten über den Sinn der Erziehung und anderes mehr sollen anhand der Enquêten typologisch gekennzeichnet und dann durch einzelne Erhebungen weiter erforscht werden.“[6]

Einleitend folgen dann vor den Einzelstudien, zu denen auch die Untersuchung Hans Mayers gehört, allgemeine theoretische Entwürfe über Autorität und Familie die Horkheimer, Fromm und Marcuse historisch, sozialpsychologisch und ideengeschichtlich darstellen. Generalisierend stellt Horkheimer fest: „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Wahrheit entgegen. Es endigt mit der Verhimmelung der bloßen Autorität als solcher, die ebenso leer an bestimmtem Inhalt ist wie der Begriff der Vernunft, seitdem Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind.“[7] In Bezug auf die konkrete historische Situation stellt er fest, dass die Beurteilung der „autoritativen Regierung“ ohne Hinblick auf die zugrunde liegende ökonomische Struktur vom Wesentlichen absieht.

Im ideengeschichtlichen Teil geht Marcuse auf den total-autoritären Staat nicht explizit ein, da er diesen Zusammenhang schon in einem Artikel von 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung betrachtet hatte.[8]

In ausführlicher Kritik an Ernst Forsthoff und Carl Schmitt heißt es da: »Die Herrschaftsform dieses nicht mehr auf dem Pluralismus der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Parteien gegründeten, aller formalrechtlichen Legalität und Legitimität enthobenen Staates ist das autoritäre Führertum und seine „Gefolgschaft. „Die politische und staatsrechtliche Prägung des nationalen Rechtsstaates ist im bewussten Gegensatz zu der des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates die des autoritären Führerstaates. Der autoritäre Führerstaat sieht in der Staatsautorität das wesentlichste Merkmal des Staates.“ (Forsthoff, Der totale Staat)«[9]

Hans Mayers Beitrag über „Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus“ erschien, wie andere Beiträge auch in gekürzter Fassung bei einigen Kapiteln. Bekannt ist, dass es nicht die Theorie des Anarchismus gibt, sondern je nach Autor sehr unterschiedliche Sichten und Herangehensweisen. Das Gemeinsame ist der »Kampf gegen die „Autorität“, im Bekenntnis zur Abschaffung des Staates und des Rechtes und zu einem Zustand der Befreiung des Individuums, in welchem alle zwangsweisen Bindungen und Einschränkungen dieser Freiheit soweit sie nicht freiwillig übernommen werden, aufgehört haben.«[10] Am Beispiel einzelner namhafter Anarchisten wie Bakunin, Stirner, Godwin, Guilleaume und Kropotkin erläutert Mayer die Theorieansätze im Anarchismus. Als systematisches Gegenbeispiel greift er des Öfteren auf Marx zurück. Was insgesamt in seiner Untersuchung nicht abgedruckt wurde, ist ein Kapitel über die Studentenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Allerdings, die zweibändige Studie, so Hans Mayer, „erwies sich als Zeitzünder“. In der Reihe „Junius-Drucke“ erschien sie zur Zeit der Studentenbewegung 1968 als begehrter Raubdruck komplett für 12,– DM. Mayer erwarb einen Raubdruck für 3,50 DM in dem sein Essay und die von Karl A. Wittfogel und Herbert Marcuse enthaltenen Beiträge waren.[11] Bei Wiederlektüre der Beiträge erscheint es durchaus als sinnvoll angesichts der aktuellen Entwicklung und dem Anwachsen rechter Denkweisen, das Thema Autorität erneut zu reflektieren.

Interessant und nicht ganz nachvollziehbar ist, dass Mayer in seinem Buch „Zeitgenossen“ kein Kapitel über Horkheimer aufgenommen hat, wohl aber z.B. über Adorno, Brückner, Hermlin und andere.[12] Es gibt allerdings ein kleines Kapitel über Horkheimer in seinen Erinnerungen Band I[13]. Auch dieses umfasst Erinnerung und Deutung. Mehrfach hat er Horkheimer auch nach seiner Exilzeit wiedergetroffen. Eingeladen hatte er ihn auch als er nach dem Rauswurf beim Frankfurter Rundfunk 1948 Dozent an der »Akademie der Arbeit« in Frankfurt war. Dort hatte er seine Studenten auch in Soziologie unterrichtet; u.a. über Émile Durkheim über den er bereits einige Jahre zuvor in der Zeitschrift für Sozialforschung geschrieben hatte.

Nach Adornos Tod schrieb Mayer einen Text über diesen der unter dem Titel „Nachdenken über Theodor W. Adorno“ im Zeitgenossenbuch steht.[14] Es folgte eine Einladung Mayers nach Montagnola wohin Horkheimer sich auf seinen Altersitz zurückgezogen hatte. Man erinnert sich an ehemalige Begegnungen, Freunde und Bekannte.

Resümierend schließt Mayer das Kapitel folgendermaßen: „Man hat in der Forschung den »späten« Horkheimer als Fehlentwicklung deuten wollen: als eine – vielleicht altersbedingte – Absage an alles, was mit der Kritischen Theorie bewirkt werden sollte. Auch das glaube ich nicht. Dieser Horkheimer der letzten Lebensjahre befand sich im Einklang mit seinen Anfängen, mit der deutsch-jüdischen Symbiose, mit dem Vater.“[15]

Es lohnt sich Horkheimer als Zeitgenossen zu betrachten, auch wenn am 7. Juli sein 50. Todestag ist. 1934 erschienen in Zürich unter dem Titel »Dämmerung« seine »Notizen in Deutschland«. Unter dem Stichwort „Asylrecht“ heißt es: „Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es passt nicht in die Gegenwart. Als die bürgerliche Ideologie Freiheit und Gleichheit noch ernst nahm und die ungehemmte Entwicklung aller Individuen noch als Zweck der Politik erschien, mochte auch der politische Flüchtling als unantastbar gelten. Das neue Asylrecht gehörte zum Kampf des dritten Standes gegen den Absolutismus, es beruhte auf der Solidarität des westeuropäischen Bürgertums und seinesgleichen in zurückgebliebenen Staaten. Heute, wo das in wenigen Händen konzentrierte Kapital zwar in sich gespalten, aber gegen das Proletariat zur solidarischen und reaktionären Weltmacht geworden ist, wird das Asylrecht immer störender. Es ist überholt. Soweit die politischen Grenzen Europas nicht gerade den Interessendifferenzen von gegnerischen, mehrere Nationen umspannenden Wirtschaftsgruppen entsprechen, fungieren sie fast bloß als allgemeines ideologisches Herrschaftsmittel, und als Reklamemittel der Rüstungsindustrie. Das Asylrecht wird vor den gemeinsamen Interessen der internationalen Kapitalistenklasse verschwinden, … Hat ein Mensch aber die Hand gegen das Ungeheuer des Trust Kapitals erhoben, so wird er in Zukunft keine Ruhe mehr finden vor den Krallen der Macht.“[16]

 

[1] Zu der Bücherverbrennung vor 90 Jahren hat der Verein EL-DE-Haus eine Aktionswoche durchgeführt, an der auch die Hans-Mayer-Gesellschaft als Kooperationspartner beteiligt war. Siehe: http://verbranntundverbannt.info/
[2] Siehe dazu: Ludwig August Jacobsen, So hat es angefangenen- Ein Bericht aus den Tagen der „nationalen Erhebung“ in Köln, mit einem Nachwort von Hans Mayer, Köln 1987
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 161ff
[4] A.a.O., S.162. Das von Freisler unterzeichnete Schreiben befindet sich im Nachlass Hans Mayers im Historischen Archiv in Köln.
[5] A.a.O. S. 179f
[6] Studien über Autorität und Familie- Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. X
[7] A.a.O., S. 26
[8] Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang III (1934), S. 161ff. Dieser Text ist online verfügbar: https://archive.org/details/ZfS_1934_III_Heft_2_k/page/n2/mode/1up. Zugriff: 1.6.2023
[9] ebenda
[10] Studien über Autorität und Familie, Band 2, S. 825
[11] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, S. 181
[12] Hans Mayer, Zeitgenossen – Erinnerung und Deutung, Frankfurt am Main 1998
[13] A.a.O. S. 178ff
[14] A.a.O., S.23-47
[15] Hans Mayer, Erinnerungen Band I, S. 187f
[16] Max Horkheimer, Dämmerung – Notizen in Deutschland, S.178

Herzlichen Glückwunsch Leo Kreutzer

Zu seinem heutigen 85. Geburtstag hat die Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG) ihrem Mitglied Professor Leo Kreutzer die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Zunächst als Assistent und dann als würdiger Nachfolger Hans Mayers hat Professor Leo Kreutzer dessen Denkweise und Herangehen an Literatur aufgenommen und weiterentwickelt. Das >Doppeltblicken< und das Prinzip >Ähnlichkeit< beim dialektische Hoffnungsdenken hat er sich zu eigen gemacht und für seine Arbeit in Hannover und an afrikanischen Universitäten für eine interkulturelle Literaturwissenschaft fortgeführt. „Die Folgen dieser Tätigkeit sind groß“, resümierte Hans Mayer zu Professor Leo Kreutzers 60. Geburtstag.

Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Tübingen, Nancy und Köln promovierte Kreutzer 1964 an der Universität Tübingen über Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«. Die Bekanntschaft und dann Zusammenarbeit mit Hans Mayer nach dessen Ankunft in Tübingen führte dann insbesondere in seiner Assistentenzeit in Hannover von 1965-1969 dazu, eine germanistische Literaturwissenschaft zu praktizieren, die ihn „von den Unarten des Fachs“ fernhielt. In seinem 2022 erschienenen Buch zu Hans Mayer unter dem Titel »Ein Hannoveraner auf Widerruf« formuliert er das so: „Dass ich Hans Mayer über Jahre regelmäßig zuhören konnte, wie er bei der Arbeit im Hörsaal stets, dabei aber niemals im Sinne einer >werkimmanenten Interpretation<, den literarischen Text in den Mittelpunkt stellte, hat mich davor bewahrt, meine eigenen Bemühungen an den Erwartungen einer germanistischen >Fachwelt< auszurichten.“[1]

Nach seiner Habilitation bei Hans Mayer über das Thema »Alfred Döblin – Sein Werk bis 1933«[2] ging Kreutzer als Literaturredakteur zum Westdeutschen Rundfunk in Köln. Am 1. Januar 1974 wurde er dann Nachfolger von Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für “Neuere und Neueste deutsche Literatur” an der Universität Hannover. Wie Lese- und Lebenserfahrung sich gegenseitig erhellen können hatte Kreutzer auch bei Mayer gelernt und eine Arbeitsweise des „intertextuellen und >intermedialen Doppeltblicken< als dialektische Art des Wahrnehmens übernommen. „Dialektisch ist diese Art des Wahrnehmens, weil sie, wie ein dialektisches Denken einen Sachverhalt durch These und Antithese erfasst, eine Erscheinung als zu einer anderen >im Widerspruch stehend< wahrnimmt. Durch die Dialektik eines >doppelt blickenden< Wahrnehmens hat Hans Mayer seinen Blick auf die Gegenstände seine Analyse geschärft.“[3]

Von Hans Mayer war seinem Nachfolger bei der Übergabe des Lehrstuhls ein afrikanischer Habilitand ans Herz gelegt worden. Daraus ergab sich bald eine weitere Betreuung von afrikanischen Doktoranden und Habilitanden. Kultur- und wissenschaftspolitisch stand Kreutzer damit vor einer enormen Herausforderung für seine Lehre und Forschung in methodischer Sicht. Er entwickelte eine Strategie des >interkulturellen Doppeltblickens< für die Literaturwissenschaft.

Mit Talar auf dem Weg zur Disputation (Foto. Privat)

In den 1990er Jahren entstand aus dieser Literaturbetrachtung für ungleichzeitige gesellschaftliche Entwicklungsprobleme und Modernisierungskonflikte die »Ecole d´Hannovre«. Diese Entwicklung entstand in Verbindung mit zahlreichen Gastprofessuren an Deutschabteilungen im subsaharischen Afrika. Gewürdigt wurde diese Arbeit mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Cheikh Anta Diop Dakar im November 2006. Der Festvortrag anlässlich der Verleihung kann hier nachgelesen werden.[4]

Zum 70. Geburtstag Hans Mayers hat Professor Kreutzer dann mit Kolleginnen und Kollegen des WDR einen Film über den Genussmenschen Hans Mayer gedreht. Ein Essen mit Walter Höllerer, Ivan Nagel, Fritz Raddatz und Martin Walser bei Günter Grass in Wewelsfleth. Die Erstsendung des Films erfolgte am 6. April 1977 im WDR. Der Titel: »Jeden Abend ein Anruf von Hegel. Eine Unterhaltung mit Hans Mayer anlässlich seines 70. Geburtstags.«

Wir wünschen, dass der Genussmensch Leo Kreutzer noch lange seinen Vorlieben folgen kann. Ad multos annos.

 

[1] Leo Kreutzer, Ein Hannoveraner auf Widerruf – Mit Hans Mayer an der Technischen Universität Hannover, Hannover 2022, S. 7.
[2] Leo Kreutzer. Alfred Döblin – Sein Werk bis 1933, Stuttgart 1970.
[3] Leo Kreutzer, Ein Hannoveraner auf Widerruf, S.10.
[4] Die deutschsprachige Fassung des Vortrags findet sich in: Leo Kreutzer. Goethe in Afrika. Hannover (Wehrhahn Verlag) 2009. S. 102-131.

Bertolt Brecht – Der Dichter und die Ratio

Zum 125. Geburtstag Bertolt Brechts

„Niemals wieder, weder vorher noch später, hab ich ihn so glücklich, heiter und daseinswillig erleben können wie in jenen Frühlingstagen des Jahres 1954 in Amsterdam.“[1] Mit diesen Worten beginnt Hans Mayer seine Erinnerung an Brecht in dem 1996 erschienen letzten Buch über den Schriftsteller mit dessen Werk er sich über 40 Jahre beschäftigt hat.[2]

Kennengelernt hatte der junge Hans Mayer Texte von Brecht schon mit 15 Jahren. Besonders beeindruckt hatte ihn nach dem Kriegserlebnis als Junge das Gedicht der »Legende vom toten Soldaten«. Mit den frühen Dramen konnte er sich aber nicht recht anfreunden. Der Durchbruch kam mit der »Dreigroschenoper«, die Mayer 1928 in Berlin in der damaligen Originalbesetzung gesehen hatte; später dann auch in Köln und Düsseldorf. Zur Zeit der »Dreigroschenoper« hatte der früher eher anarchisch orientierte Brecht sich dem Studium des Marxismus gewidmet. Seine Lehrer damals waren Karl Korsch und Fritz Sternberg. Mit letzterem hatte er während seiner Berliner Zeit vor dem Exil im engen Kontakt gestanden. Einerseits in einer sich regelmäßig treffenden Gruppe zu der auch Alfred Döblin und Arnolt Bronnen gehörten. Andererseits standen aber Sternberg und Brecht, nachdem sie sich beim ersten Treffen fast zerstritten hatten, im sehr engen Austausch. Sternberg von Haus aus Ökonom und Soziologe, erhielt von Brecht jedes Manuskript zum Lesen als Voraussetzung für eine engen inhaltlichen Austausch. In seinen 1963 erschienen »Erinnerungen an Brecht« hat Sternberg diese Zeit von der Mitte der 20er Jahre bis zur Flucht ins Exil 1933 sehr dezidiert geschildert.[3]

In dieser Zeit war er einer der gefragtesten politischen Redner bei Veranstaltungen linker politischer Parteien und der Gewerkschaften. Hans Mayer hat in seiner Kölner Zeit vorübergehend auch eng mit ihm zusammengearbeitet und schildert ihn in seinem Buch »Ein Deutscher auf Widerruf«. »Die Wirkung des Mannes war außerordentlich, weit stärker als diejenige all der anderen Referenten mit oft berühmten Namen. Der Volkstribun eines Typs, den es in Deutschland kaum je gegeben hat in der wirklichen Arbeiterpolitik. Ein jüdischer Danton gleichsam, gedrungen, mit zornigen Armbewegungen und einem ansteckenden Hohngelächter, wenn er verkündete: »Die Bourgeoisie ist nicht mit der Demokratie verheiratet, sondern mit dem Profit!«“[4]

An dem promovierten Ökonomen und Soziologen schätzte Brecht aber auch dessen weitgefasste literarischen Kenntnisse. Die erste stundenlange Debatte zwischen den beiden drehte sich um die Frage, inwieweit im Drama oder der Literatur das Liebesverhältnis zwischen einem Mann und einer Frau tragenden Charakter für den gesamten Stoff haben könne. Der historische Rahmen dafür spannte sich von Platon über Dante, Shakespeare und Goethe bis in die Gegenwart. Resümierend stellt Sternberg in den Erinnerungen fest: „Wir redeten die ganzen Jahre immer wieder über ein und dasselbe Thema: über den Dichter in der Zeit, oder um es noch deutlicher zu sagen: über den Dichter in unserer, in der heutigen Zeit, über den Dichter in Deutschland vor 1933.“[5]

Für Brecht war unabdingbar, dass der Dichter sich zu den konkreten Verhältnissen äußern und auf deren Veränderung drängen müsse.

Angesichts der Wirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit und dem Aufstieg der Nazis diskutierte und stellte man sich die Frage, was zu schreiben und zu tun sei. Ein Thema dabei war die Frage, wie man zu den Leuten aus der Mittelschicht sprechen könne. Wie könne man einerseits die Gruppe der Handwerker und Kleinhändler ansprechen und andererseits Angestellte, Ingenieure oder Architekten. Für alle diese unterschiedlichen Gruppen musste man einen anderen Ansatzpunkt finden, sie anzusprechen und politisch zu überzeugen. Für jede von ihnen gäbe es einen unterschiedlichen „Umsetzungsgrund“. Spezifisch andere Zugänge gebe es auch zu der Gruppe der Frauen. Die innenpolitische Lage war ebenfalls ständiges Thema.

Differenziert war zwischen den Beiden auch die Einschätzung und Haltung zur Sozialdemokratie und zur Kommunistischen Partei. Ein einschneidendes gemeinsames Erlebnis war der 1. Mai 1929, der sogenannte „Blutmai“, an dem der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel auf die gegen das Demonstrationsverbot protestierenden Kommunisten schießen ließ. Laut Sternberg waren es wohl die Erlebnisse der drei Tage vom 1. bis 3. Mai die Brecht in die Nähe der Kommunisten rücken ließ. „Daß Arbeiter, die wie seit Jahrzehnten am 1. Mai demonstrieren wollten, für die Polizei nur Pöbel darstellten, war wiederum für Brecht ein Erlebnis, daß er nicht mehr vergaß; noch ein Jahrzehnt später, als wir längst in der Emigration waren, erzählte er davon.“[6]

Ende 1930 als die Weltwirtschaftskrise bereits begonnen hatte, wurde Brechts Stück »Die Maßnahme« uraufgeführt. Für Sternberg war diese Aufführung „ein gewaltiges, einzigartiges Erlebnis.“[7] Nach jeder Aufführung gab es Diskussionen mit Brecht. „Er schrieb immer wieder neue Schlüsse zu seinen Stücken – und dies schon damals als keine Partei ihn dazu nötigte. Brecht wollte die Welt verändern, und es gab wohl keinen Marxschen Satz, der ihn stärker berührte als der, daß die Philosophen bisher die Welt nur verschieden interpretiert hatten, daß es aber gelte, sie zu verändern. Brecht wollte mit seinen Stücken die Welt verändern. Er war ein unermüdlicher Arbeiter auf diesem Feld.“[8] Ausführliche Diskussionen hatten die beiden auch über den »Julius Cäsar« von Shakespeare und die (Un-)Möglichkeit ihn aktuell als Theaterstück aufzuführen; anders als den »Galilei«. Dieses Stück in verschiedenen Fassungen ist nach Auffassung Sternbergs auch eine Art Schlüssel zum Verständnis des 17. Juni und der Politik der SED unter Ulbricht. „Brecht mußte für dieses Theater in Ostberlin zahlen, wie Galilei zahlen mußte, als er unter den Augen der Inquisition seine Forschungen fortführen mußte.”

Interessant, weil in vielerlei Hinsicht korrespondierend, sind auch die Ausführungen Hans Mayers zu den genannten Theaterstücken in dem Beitrag »Bert Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene«.[9] Das Resümee dort ist allerdings – bezogen auf die Theaterkunst – nachdenklich stimmend: „Nicht zuletzt ist Brecht mit seinem Postulat einer neuen Zuschauerkunst gescheitert. Der von Ulbricht (und von Moskau) dekretierte real existierende Sozialismus hatte in der DDR bloß bewiesen, daß es, kaum verändert, ein deutsches Kleinbürgertum gab, welches wenig gelernt und kaum etwas vergessen hatte. Wie sollte da eine neue Zuschauerkunst entstehen. Sie besaß weder eine Basis noch einen Überbau.“[10]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Brecht, Frankfurt am Main 1996
[2] Siehe: http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/hans-mayer/bibliographie/
[3] Fritz Sternberg, Der Dichter und die Ratio – Erinnerungen an Bertolt Brecht herausgegebenen und kommentiert von Helga Grebing, Berlin 2014
[4] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Frankfurt am Main 1982, S. 136
[5] Fritz Sternberg, Der Dichter und die Ratio, S.12
[6] A.a.O., S.25
[7] A.a.O., S.27
[8] A.a.O., S.28f
[9] Hans Mayer, Bert Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene, in: Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene – Ein Lesebuch ausgewählt von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1993, S. 9-36
Der gleiche Text findet sich auch in Hans Mayer, Brecht, S. 447-480
[10] A.a.o., S. 480