„Mit allen Mitteln der Überzeugung gegen den Nazismus kämpfen“

„Die Verfolgten des Naziregimes … stehen jetzt eng zusammen, weit über die politischen Parteien, die gesellschaftlichen Klassen und die religiösen Bekenntnisse hinweg. Sie bildeten gestern eine Gemeinschaft der Opfer der Verfolgten. Heute bilden sie eine Gemeinschaft der Warner und der politischen Kämpfer“, erklärte Hans Mayer, 1. Landesvorsitzender und Gründungsmitglied der VVN Hessen, am
13. März 1947 in der Frankfurter Rundschau. Zwei Tage später eröffnete er die
1. Interzonale Länderkonferenz der VVN in Frankfurt am Main. Dort schlossen sich die in allen Zonen Deutschlands existierenden Verbände zum gesamtdeutschen Rat der VVN zusammen. Politische Probleme eines nachfaschistischen Deutschlands waren die Hauptthemen.

Die damals in Anlehnung an den Schwur von Buchenwald formulierten Ziele sind nach mehr als 70 Jahren immer noch auf der Tagesordnung. Gerade die jüngsten politischen Entwicklungen, eher unzureichend benannt mit den Ereignissen in Chemnitz, Wolfhagen bei Kassel und Halle, zeigen die Notwendigkeit der damals formulierten antifaschistischen Aktivitäten:

  • für Lernen aus der Vergangenheit;
  • für die Vision einer antifaschistischen Zukunft;
  • für eine Welt ohne Rassismus, Antisemitismus, Nazismus und Militarismus, ohne Ausgrenzung, ohne Faschismus und Krieg.

Umso unglaublicher erscheint die Entscheidung des Berliner Finanzamts der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit zu entziehen[1]. Die Begründung, fußend auf einer unbewiesenen Feststellung im Verfassungsschutzbericht von Bayern mit der Vermutung der dortigen VVN-BDA als extremistischer Organisation, ist mit der Umdrehung der Beweislast aberwitzig.

In einem offenen Brief an den Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat die VVN-BdA-Ehrenvorsitzende Esther Bejarano den Finger in die Wunde gelegt. »Wohin steuert die Bundesrepublik? Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle. „Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden“, hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet … Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?“«[2]

Wie wichtig für die VVN die Kulturfrage im befreiten Deutschland war, zeigte sich auch daran, dass Hans Mayer als hessischer Landesvorsitzender an dem 1. Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 in Berlin teilnahm.

Hans Mayer, eröffnete als promovierter Jurist und Landesvorsitzender der VVN Hessen 1948 die Internationale Juristen-Konferenz des Rates der VVN. Er stellte fest: „Das Problem des Verhältnisses von Recht und Moral, die Auffassung von Problemen der Demokratie, auch die Auffassung von völkerrechtlichen Strukturen Europas…sind heute weitgehend auch politische Themen.“ Macht man sich dies auch bei den der heutigen Problematik zugrunde liegenden Verhaltensweisen der regierenden Parteien deutlich, wird klar: Hinter dem Vorgehen des Bundesfinanzgerichtshofes das allgemeinpolitische Mandat zur Aberkennung der gemeinnützigen Körperschaften wie bei attac geltend zu machen, steckt eine Strategie der politischen Klasse die demokratischen Kräfte der Zivilgesellschaft und ihre Wirkungsmöglichkeiten auszuhebeln.

Noch einmal Hans Mayer: „Unsere Aufgabe ist es, über alle Parteien, Bekenntnisse und Abstammungen hinweg eine Vereinigung der Menschen zu schaffen, die warnen, die aufpassen, die den Zeigefinger heben, und die schreien, und die notfalls mit allen Mitteln der Kraft der Zahl und der Überzeugung, die sie verkörpern, der Welt zeigen, wie notwendig es ist, gegen den Nazismus zu kämpfen.“[3] In Anerkennung seines lebenslangen Kampfes für Demokratie und Humanität wurde dem langjährigen, immer wieder gegen Faschismus und Neofaschismus warnenden Hans Mayer zwei Jahre vor seinem Tod im Mai 1999 die Ehrenmitgliedschaft der VVN-BdA verliehen.

[1] Siehe u.a. https://taz.de/VVN-BdA-erlebt-Mitgliederboom/!5641537/

[2] https://vvn-bda.de/offener-brief-von-esther-bejarano-an-olaf-scholz-das-haus-brennt-und-sie-sperren-die-feuerwehr-aus/

[3] „Der historische Anspruch des deutschen Widerstandes, in: Ulrich Schneider Zukunftsentwurf Antifaschismus, Bonn 1997

Die Richterin und der «Anarchist»

Dankrede der Preisträgerin Foto: hbn

Die Schriftstellerin und promovierte Juristin Juli Zeh hat am 8. November 2019 den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln erhalten. In ihrer Dankrede[1] ging sie auf die Rolle des politischen Schriftstellers in der Gesellschaft, ausgehend „vom Fluchtpunkt «Heinrich Böll» ein und nahm „die jüngere Entwicklung von politischer Autorenschaft … während der letzten zwanzig Jahre, in den Blick“. Sie stellte fest: „Literatur und zu einem gewissen Grade auch die Literaten selbst, sind Zeitgeist-Seismographen. Ob die Autoren wollen oder nicht – in ihrem Denken, Reden und Schreiben scheint immer auch eine verdichtete Form von kollektiver Befindlichkeit auf…. Die Frage nach dem Zustand politischer Autorenschaft misst also gleichzeitig dem gesamtgesellschaftlichen politischen Selbstverständnis den Puls.“ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts konstatiert sie eine „flächendeckende De-Politisierung von Nachwuchsschriftstellern und anderen Intellektuellen … als eine überhebliche Abwendung des Individuums von der Gemeinschaft. Am treffendsten fasst man es mit einem auf den ersten Blick oberflächlichen, auf den zweiten jedoch verdammt abgründigen Begriff: Politik war irgendwie „uncool“ geworden.“

Zunehmend wurde „Politikverdrossenheit zur mehrheitsfälligen Politikverachtung“. Und weiter: „Auf einmal waren die Intellektuellen nicht mehr nur auf coole Weise desinteressiert an Politik – sie waren ausdrücklich dagegen. Nicht gegen ein bestimmtes politisches Programm (das sie ja auch gar nicht gelesen hatten), sondern gegen Politik an sich. Vor allem gegen Politiker, alle Politiker, die immer unverfrorener als minderwertiger Menschenschlag geschildert wurden.“

Unter Bezug auf Heinrich Böll stellt Juli Zeh dazu fest:

„Man muss sich nur einmal vor Augen halten, wie kilometerweit dieses verächtliche Benehmen, diese zynischen Äußerungen entfernt sind von dem, was einst Heinrich Böll unter politischem Engagement verstand. Böll war ganz bewusst kein Mitglied einer Partei. Auch war er genug Kind seiner Zeit, um jeder Form von Obrigkeit mindestens skeptisch gegenüberzustehen. Er wird teilweise sogar als Anarchist bezeichnet, was ich persönlich nicht so treffend finde. Oder höchstens in dem Sinn, in dem Böll selbst den Anarchisten definiert hat, nämlich als einen „Menschen, [der] verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft (zusammen)denken“ kann. Bei allem gepflegten Einzelgängertum – Heinrich Böll vertrat zeit seines Lebens das Ideal des aufgeklärten, verantwortungsbewussten Citoyens. Er wirkte im Herzen der bundesrepublikanischen Demokratie und nicht gegen sie.“

Über das, was Bölls Verständnis von Anarchismus war, hätte Juli Zeh in der Dankesrede des ersten Böll-Preis-Trägers, Hans Mayer, fündig werden können.[2] Dort verweist Mayer auf das Vorwort Bernd Balzers zum ersten Band von Bölls gesammelten Romanen und Erzählungen. Es steht unter dem Titel »Anarchie und Zärtlichkeit«. Bölls Verständnis davon wird am Beispiel seiner Werke ausführlich analysiert. Unter Bezug auf einen seiner letzten großen Romane «Gruppenbild mit Dame» heißt es dort: „Das Modell einer – weiterhin anarchistisch strukturierten – Gegengesellschaft ist nach Bölls Ansicht »realisierbar, wenn Solidarität entsteht mit gleichzeitiger Analyse der Umwelt. Nicht auf romantische Weise …man muß schon ganz genau wissen, in welcher Welt man lebt…. Als eine »profitlose und klassenlose Gesellschaft« will er dieses Modell verstanden wissen;…“[3]

Hans Mayer in seiner Dankesrede: „Leni Gruyten und Katharina Blum stehen für viele. Hier hat einer, in unseren Tagen, das alte Thema »Köln und die Literatur« neu behandelt. Nichts ging verloren von der plebejischen Tradition, von der Parteinahme für die kleinen Leute, vom Neinsagertum und von der Widersetzlichkeit.  Alles aber wurde zugleich zum Bestandteil der Weltliteratur.“ Und in Bezug auf „die so gewaltigen Kräfte des Neubeginns“ nach 1945 konstatiert Mayer: „Den Ausschlag gab das plebejische und nach wie vor bäuerliche Element des Vorgebirges und des Niederrheins. Dorther kam auch das Moment der süßen Anarchie, einer fundamentalen Aufsässigkeit, die es offenbar immer wieder gegeben hat.“[4]

Das Fazit der ehrenamtlichen Verfassungsrichterin Juli Zeh:

„Wir, jeder Einzelne von uns, als Schriftsteller, als Bürger, sind das Rückgrat der Demokratie, sofern wir selbst ein Rückgrat besitzen. Die demokratische Freiheit hat meine Generation geschenkt bekommen. Jetzt müssen wir noch stark genug werden, um uns selbst und einander in Freiheit zu ertragen. Denn das ist Politischsein im besten demokratischen Sinne: immer wieder das Anders-Sein des Anderen als Äquivalent und Bedingung der eigenen Selbstverwirklichung zu erkennen. Heinrich Böll hat vorgemacht, wie das geht: verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft zusammendenken.“

Freude über den Heinrich-Böll-Preis (Foto: hbn)

 

[1] Juli Zeh, Wir tragen alle Mitschuld, in: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-11/politikverdruss-juli-zeh-heinrich-boell-demokratie-intellektuelle

[2] Siehe Hans Mayer Aufklärung heute – Reden und Vorträge 1978-1984, Frankfurt am Main1985, S. 131

[3] Heinrich Böll, Romane und Erzählungen 1, S. [134]

[4] Hans Mayer, Köln: eine Stadt, die auch ihr Gegenteil ist, in: Hans Mayer, Stadtansichten, Frankfurt am Main 1989, S. 44f

Erhellendes über »Marienbader Bergschluchten«

Prof. Osterkamp   (Foto: Uni Tübingen)

Zur feierlichen Semestereröffnung des Deutschen Seminars der Universität Tübingen hat Professor Dr. Ernst Osterkamp unter dem enigmatischen Titel »Marienbader Bergschluchten« zu Goethes großem Schlüsselthema »Liebe« einen ausgezeichnet fundierten sehr erhellenden Vortrag gehalten. Den Rahmen boten die »Hans-Mayer-Lectures« die von Professor Dr. Eckart Goebel seit 2017 veranstaltet werden. Die am Lehrstuhl für Komparatistik und Neuere Deutsche Literatur der Eberhard Karls Universität Tübingen eingerichtete Hans-Mayer-Lecture soll einmal im Jahr das Andenken des bedeutenden Literaturwissenschaftlers, Kulturkritikers, Essayisten und Schriftstellers Hans Mayer ehren und sein akademisches Vermächtnis im Zeichen der Aufklärung lebendig halten.

Neben Studentinnen und Studenten des Instituts waren auch renomierte Literaturwissenschaftler*innen und Dozent*innen unterschiedlicher Provenienz erschienen. Besonders erfreut zeigten sich der Institutsleiter und der Referent des Abends über die Anwesenheit von Dr. Inge Jens, die den letzten großen Goetheband von Hans Mayer mit ihm drei Jahre vor seinem Tod herausgegeben hatte.

Dr. Inge Jens und Heinrich Bleicher, Vorsitzender der HMG    (Foto: Bendel)

Professor Osterkamp wies zu Beginn seines Vortrages auf die jahrzentelange Beschäftigung Mayers mit Goethe hin. Zeitlich gesehen steht da am Anfang der wenig bekannte Band »Unendliche Kette – Goethestudien« von 1949. Wesentlich für einen Neubeginn der Diskussion über Goethe war aber der „geistreiche 1973 erschienene Essay“ »Goethe – Ein Versuch über den Erfolg«. Die Begründung für den Erfolg des Buches lag in den Veränderungen von 1968, auch wenn Goethe da noch nicht Thema war. Aber, so der Referent, „dass Hans Mayer mit seiner ʹKraft zum Widerstandʹ sagte, jetzt schreibe ich über Goethe, das machte auch Goethe dann wieder zu einem neuen Gegenstand des intellektuellen Diskurses.“

Mit dem Zentralthema des alternden Goethe, ʹob und wie sich ohne Liebe weiterleben lasseʹ, von seiner »Marienbader Elegie« bis zum Ende von »Faust II«, hat Hans Mayer sich allerdings nicht beschäftigt. Dem Referenten zu diesem Thema in seiner äußert schlüssigen und erhellenden Argumentation zu folgen, war spannend und eine große Freude für die Anwesenden.

Lesen sollte man also nicht nur Mayers Texte von 1973 und 1999 sondern auch die Veröffentlichung von Professor Osterkamps Vortrag, im „Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt 2019“.

Hans Mayer als Schirmherr der »New German Critique“

Einem Hinweis von Professor Jost Hermand aus Wisconsin bei der jüngsten Mitgliederversammlung der Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG) ist es zu verdanken, dass ein Treffen mit Professor Andreas Huyssen von der Columbia-Universität New York zustande kam.

Professor Hussen als aufmerksamer Zuhörer und Beobachter bei der Mosse-Tagung in Berlin
Professor Huyssen als aufmerksamer Zuhörer
und Beobachter bei der Mosse-Tagung in Berlin

Andreas Huyssen ist Villard Professor em. für deutsche Sprache und vergleichende Literaturwissenschaft und als Gründungsmitglied Mitherausgeber der New German Critique.

Anlässlich des 100. Geburtstags des Kulturhistorikers George L. Mosse hatten sich Anfang Juni in Berlin deutsche, israelische und US-Wissenschaftler getroffen, um über Mosses Forschungen und insbesondere seine Frage, wie es zum Faschismus in Europa kommen konnte, zu diskutieren. Einer der Vortragenden im Panel „Faschismus, Popularismus und Authoritarismus“ war – mit einem brillianten Beitrag – Andreas Huyssen der gern zu einem Gespräch über Hans Mayer am Rande der Konferenz bereit war.

Er berichtete von Hans Mayers Tätigkeit als Schirmherr bei der Gründung der »NGC«. Mayer hatte 1972-1973 die Carl Schurz Professur an der Universität von Wisconsin -Milwaukee (UWM) inne und unterstütze dort nachhaltig das Anliegen von Jack Zipes, David Bathrick und Anson G. Rabinbach die Zeitschrift zu gründen. Der Untertitel erklärte programmatisch den interdisziplinären Charakter des Journals sowie die beabsichtigte Ausweitung der Studien auf deutsche Kultur, Philosophie, Geistesgeschichte. Mayer, der 1972 den Ehrendoktortitel der Universität erhalten hatte, half zu überzeugen, dass die neue Zeitschrift äußerst förderlich für die Reputation der »UWM« sein würde. Schnell wurde offensichtlich, dass die Herausgeber auf der Basis eines Marxismus agierten, der auf kritischer Anknüpfung an die Tradition der „Kritischen Theorie“ fußte. Adorno, Horkheimer aber auch Korsch, Bloch und Benjamin sowie Kracauer und Reich waren Autoren, auf die man sich bezog. Selbstverständlich fehlte auch nicht die Brecht-Lukács-Debatte, die zeitgleich in der Zeitschrift »Alternative« in Berlin geführt wurde.

Der erste Beitrag in der 1974 erschienen ersten Nummer stammte von Hans Mayer und trug den Titel „Heinrich Heine and German Ideologists“. In der zweiten Nummer erschien ein weiterer Beitrag Hans Mayers unter dem Titel „An Aesthetic Debate of 1951: Comment on a Text by Hanns Eisler“. Es gab übersetzte Beiträge von Adorno, Oskar Negt, und Reinhard Kühnl sowie einen Beitrag von Anson G. Rabinbach zum Thema „Toward a Marxist Theory of Fascism and National Socialism: A Report on Developments in West Germany“.

Im nächsten Jahr folgten u.a. ein Beitrag von Andreas Huyssen zu Adorno und ein Nachdruck von Karl Korsch zur sozialistischen Praxis neben einem Beitrag von Hans Mayer mit dem Titel „Thomas Mann and Bertolt Brecht: Anatomy of an Antagonism“.

Die Zeitschrift hatte durchaus den Blick auf beide Deutschlands. Mehrfach wurde diskutiert über Heiner Müller „Mauser“, zu Christa Wolf und Wolfgang Biermann wie Thomas Brasch. Wen all diese Sachverhalte genauer interessieren, der kann sie in dem Beitrag von Andreas Huyssen und Anson Rabinbach in der Nummer 95 der »NGC« nachlesen die 2005 erschienen ist. Dies ist ein Spezialheft zum 70. Geburtstag von David Bathrick, einem der Gründer der »NGC«, dessen Verdienste in der damals 30jährigen Existenz der Zeitschrift auch Jost Hermand in seinem Beitrag würdigt.

Hans Mayer hat während seiner Zeit in Wisconsin-Milwaukee seine Arbeit an dem Buch »Aussenseiter« begonnen. Er lernte dort übrigens George l. Mosse bei dessen Freund Jost Hermand kennen und schätzen.

In ihrem Abschlussbeitrag zur Mosse-Konferenz stellte Aleida Assmann unter Anknüpfung an Mosse fest: „Wir müssen jede Gesellschaft immer von dem Außenseiter, der er selber war, denken und aus seiner oder ihrer Perspektive die Gesellschaft beurteilen. Es ist die radikale Perspektive der Menschenrechte, die er da vertritt, und er sagt, es ist der Test einer demokratischen Gesellschaft, einer solidarischen Gesellschaft, wie sie mit dem Außenseiter umgeht.“

Wer die Artikel Hans Mayers lesen will, erhält sie unter den nachfolgenden links:
https://www.jstor.org/stable/487626
https://www.jstor.org/stable/487954?seq=1#page_scan_tab_contents

„Blauäugigkeit und Realitätsverweigerung“?

Die Universität Köln feiert ihr 100jähriges Jubiläum. Der Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht dazu eine Artikelserie mit unterschiedlichen Beiträgen. Am 17. 5. 2019 erschien ein Beitrag von Herrn Markus Schwering mit dem Titel „Im Gleichschritt in die Diktatur“. Hans Mayer hat in Köln Jura studiert und sein Doktorexamen gemacht. Der Doktortitel wurde ihm allerdings am 14.5.1938 entzogen: „Weil ausgebürgert“. Am 1.9. 1981 – nach 43 Jahren und ganze 36 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus – erhält er sein Diplom zurück! Eine im genannten Kontext interessante und beispielhafte Geschichte. Sie taucht bei Schwering nicht auf. Der versucht zu zeigen, wie Mayer sich als Student der UNI zum „braunen Treiben“ dort geäußert hat. Den „politischen Schock“ Mayers konstatiert er erst bei den Reichstagswahlen von 1930. „War da Blauäugigkeit und Realitätsverweigerung im Spiel?“ fragt er….

Der komplette Artikel findet sich unter nachfolgendem link:
https://www.ksta.de/kultur/im-gleichschritt-in-die-diktatur-32554742

Ich habe mir erlaubt, einen Leserbrief zu schreiben:

„Blauäugigkeit und Realitätsverweigerung“?
Erfreulich ist, dass Herr Schwering in seinem Artikel „Im Gleichschritt in die Diktatur“ (Freitag 17.5.2019) mehrfach den an der Kölner Universität promovierten Juristen und „nachmaligen berühmten Literaturwissenschaftler und Essayist Hans Mayer“ zitiert. Er vermisst dann, dass man in Mayers Erinnerungen „nichts vom braunen Treiben an der Kölner Uni liest.“ Es folgt die Suggestivfrage, ob „da Blauäugigkeit und Realitätsverweigerung im Spiel“ war. Er beantwortet sie mit dem berühmten Tucholskyschen «Jein». Das greift allerdings für einen belesenen Mann wie Herrn Schwering zu kurz. Die marxistische und sozialistische und damit antifaschistische Position des Studenten Mayer lässt sich seitenweise aus den Erinnerungen erkennen. Die Faschismusanalyse Thalheimers von der KPO, der Mayer nahestand, ist ein weiteres Beispiel. Der Hinweis auf den Prozess des NSDAP-Gauleiter Dr. Robert Ley ist auch nicht zu übersehen. Mayer hatte dem als Gerichtsreferendar beigewohnt. Die Folge: „Mir hatte man nichts vergessen im braunen Haus. An einem Sommerabend war ich überfallen und zusammengeschlagenen worden.“ Mayer flüchtete zum zweiten Staatsexamen nach Berlin und entkam so „den Braunen, die ihn abholen wollten.“ In Berlin hatte er übrigens auch 1926/1927 studiert. War also zeitweise gar nicht in Köln, sondern in Berlin. Wer allerdings mehr über seine Einschätzung zur juristische Ausbildung in Köln und die Weimarer Zeit lesen will, schaue in Mayers »Reden über Deutschland« und den Vortrag »Aus den Erinnerungen eines entlaufenen Juristen« (gehalten am 16. Oktober 1987 im Kölner Gürzenich) Ein Fazit: „Die Frage nach unseren juristischen Lehrjahren in der Weimarer »Systemzeit«, wie braune Propaganda zu sagen pflegte, hängt untrennbar zusammen mit dem immer noch unbegreiflichen Phänomen, daß deutsche Richter und deutsche Anwälte sowohl des Staates wie irgendwelcher Prozeßparteien imstande waren, ihre Rechtswissenschaft einzusetzen für ein Unrechtssystem. Was heißen mußte: Mittun beim Unrechttun.“ Viel Spaß beim Lesen!

Heinrich Bleicher-Nagelsmann
Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft

Besuch bei Alfred Grosser

Alfred GrosserEinen Tag nach dem Brand von Notre Dame haben der stellvertretende Vorsitzende, Heiner Wittmann und der Unterzeichner Professor Alfred Grosser in Paris besucht. Das Gespräch mit dem noch sehr im aktuellen Zeitgeschehen präsenten Politikwissenschaftler[1] steht in einer Reihe von Interviews mit Menschen, die Hans Mayer noch persönlich gekannt haben.

Zu Eugen Kogon 75. Geburtstag am
2. Februar 1978, hatten Alfred Grosser und Hans Mayer einen Vortrag zur „Rolle des politischen Schriftstellers gehalten. Grosser stellte damals in seinem Vortrag nach Hans Mayer fest, dass dieser richtig festgestellt habe, dass „dem Schriftsteller zu Unrecht politische Kompetenz abgestritten werde“. Doch trotz der positiven Bespiele Heinrich Bölls oder Günter Grass stellte er fest, dass die gesellschaftliche Intellektuellenfunktion der großen Schriftsteller an die Sozialwissenschaftler übergegangen sei. Diese seien allerdings „oft genauso inkompetent in der Politik, wie es die Dichter vorher gewesen sind“. Er führte dann seine Gedanken weiter aus in dem Zusammenhang des politischen Schriftstellers und der Freiheit.
In dem aktuellen Interview, dass mit Grosser geführt wurde knüpfte er an diesen Gedanken wieder an. Das Gespräch soll gemeinsam mit weiteren Interviews unter anderem mit Inge Jens, Jost Hermand und Christoph Hein in einem Band über Hans Mayer veröffentlicht werden.
Zu aktuellen Themen wie der deutsch-französischen Beziehung und dem Brexit hat Grosser sich im folgenden Gespräch dann gegenüber dem Frankreich-Blog geäußert.[2]
Zum tragischen Brand wies er darauf hin, dass es hier weniger um die Kathedrale als ein christliches Symbol gehe, sondern die Bedeutung von Notre-Dame als ein Symbol für die Geschichte Frankreichs.

[1] Siehe https://www.france-blog.info/alfred-grosser-wird-heute-94-jahre-alt
[2] Siehe: https://www.france-blog.info/category/deutsch-franzosische-beziehungen

Urheberrecht und Digitalkonzerne

In den letzten Wochen hat es zahlreiche Debatten um die Reform des Urheberrechts in Europa gegeben. Am Samstag dem 23. März gingen zehntausende gegen die Urheberrechtsreform auf die Straße. Sie sehen die Freiheit des Internets bedroht. Als wenn diese nicht schon längst in den Händen der Konzerne läge. Deutlich haben europäische Autoreninnen- und Autorenverbände am Freitag für die Verabschiedung der EU-Urheberrechtsreform plädiert: „Die Zukunft der Urheberinnen und Urheber“. Dem ist nachdrücklich zuzustimmen.

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden am Dienstag, dem
26. März 2019, über die »Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt« abstimmen. Dies ist ein historischer Moment, dessen Folgen für die Zukunft aller Urheberinnen und Urheber in Europa, in den verschiedenen Kreativbereichen und insbesondere im Buchsektor, entscheidend sein wird.

Für ein gutes Verständnis der aktuellen Materie empfiehlt sich ein Artikel von Adrian Kreye aus der Süddeutschen vom 23. März 2019. Er ruft den Demonstranten zu: „Ihr unterstützt datengierige US-Konzerne!“ So ist es.

Heinrich Bleicher-Nagelsmann

Ergänzung am 26. März 2019:
Das EU-Parlament hat mit 348 Ja-Stimmen bei 274 Gegenstimmen und 36 Ent-haltungen die Richtlinie angenommen. Siehe hier

PS: Im übrigen sei noch einmal daran erinnert:
 „Der Künstler mit der Samtjacke hat abgewirtschaftet. In dem Augenblick, wo ein Kunstwerk die Werkstatt verläßt, um auf dem Markt angepriesen zu werden, ist es Ware geworden, und es ist das Verdienst des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, diese Erkenntnis in alle Kreise der Schriftsteller verbreitet zu haben. Es schämt sich niemand mehr, von seiner künstlerischen Arbeit zu leben, sie auszunutzen, Abrechnung zu fordern … ein Schriftsteller, der diese einfachsten marxistischen Grundbedingungen seines Schaffens hochmütig ignorieren wollte, wäre ein Lügner oder ein sehr wohlhabender Amateur. Die Pflichten des Schriftstellers liegen klar zutage:
Der Schriftsteller darf nicht verlangen, dass sein Verleger nur ein Mäzen sei. Er hat sich nicht allein auf den Verleger zu verlassen; er muß selber das Urheberrecht kennen, daher hat er die Pflicht, die ihm vorgelegten Abrechnungen sauber zu prüfen, und wenn er das nicht kann, muß er einen geschäftskundigen Mann damit beauftragen; der Schriftsteller darf nichts Unmögliches vom Verleger verlangen, er muß also die Marktlage zu beurteilen wissen und die Möglichkeiten seiner geschäftlichen Erfolge erkennen; der Schriftsteller muß organisiert sein; der Schriftsteller sei kein lyrisches Mondkalb.
… Im allgemeinen aber ist, wie es nicht anders sein kann, der Autor dem Verleger an geschäftlicher Tüchtigkeit und Erfahrung unterlegen. Ist der Verleger ein Schwein, dann ist der Autor geliefert.

Kurt Tucholsky  „Schmiede und Schmiedegesellen“
in: Die Weltbühne, 20.08.1929, Nr. 34, S. 284

„Der Römische Carneval ist ein Fest, das sich das Volk selbst gibt.“[1]

In einem Gespräch mit Dr. Friedrich Dieckmann zu Hans Mayer und dessen Goetheleidenschaft fiel auch das Stichwort „Romantik“. War diese Zeit für den Namensgeber unserer Gesellschaft eher nachgeordnet? Mit gezieltem Griff in seine Bibliothek stellte Friedrich Dieckmann klar: auch das war ein Thema für Hans Mayer. In seiner bei «Rütten & Loening» erschienen »Deutschen Literatur und Weltliteratur« aber auch in anderen Werken.
1983 erschien im Verlag Neske Pfullingen Mayers Buch »Zur deutschen Klassik und Romantik«.[2] Darin findet sich ein Beitrag über Goethes »Italienische Reise« und den Karneval als ein zentrales Thema. Das Gespräch mit Dr. Friedrich Dieckmann fand am 1. März in Berlin statt, einen Tag nach «Weiberfastnacht».
Gedrängt in langen Reihen standen zu den „tollen Tagen“ die Karnevalsflüchtlinge aus der Republik vor den Museen Berlins. Sie suchten Freude und Sinn in der Kultur und vergaßen die Forderung nach der Macht, die sich zumindest symbolisch das Volk in der 5. Jahreszeit nahm. Dieser Ursprung ist aus dem Horizont gekommen.

Nicht nutzen konnte die ihm scheinbar in seinem Fürstentum gegebene Macht mehr als 230 Jahre zuvor ein Kunst- und Kulturversessener, den es nach «Arkadien» trieb. Sein Suchen galt dem Blick auf das wirkliche Leben in Rom und nicht auf das vielfach vorhandene kunstgeprägte Verständnis.
Gesucht und in der Bücherwelt Berlins gefunden, Hans Mayers schon genanntes Buch »Betrachtungen zur Klassik und Romantik« mit dem Beitrag zu Goethes »Italienischer Reise«. Man hat sie gelesen, als klassische Reisebeschreibung über das „Land wo die Zitronen blühen“. Als die Erfüllung eines Jugendtraumes oder als Flucht vor der letztlich unerfüllbaren Liebe zur Frau vom Stein. Folgt man allerdings den erhellenden Gedanken Hans Mayers liegen die Dinge etwas anders:
Goethes „italienische Einsichten haben nichts mit «Verkümmerung» (Mehring) zu tun, sondern mit tiefer Einsicht auch in die geschichtlichen Zusammenhänge, denen sein bisheriges Leben und Wirken unterworfen war. … Alles war daran gescheitert, daß die Machtverhältnisse in diesem thüringischen Staatswesen eines kleinen Absolutismus durch Goethes Wirken nicht erschüttert werden konnte.“
Goethe: „Ich schrieb zu gleicher Zeit einen Aufsatz über Kunst, Manier und Stil einen anderen, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, und das römische Karneval; die zeigen sämtlich was damals in meinem Inneren vorging …“ Mayer resümiert: „Auf Einsicht in Gesetzlichkeiten war alles angelegt…. Wie der Stilbegriff die Überwindung des Geniebegriffs, so bedeutete die Darstellung des römischen Karnevals als eines gleichzeitig natürlichen wie nationalen, dabei gesetzmäßigen Vorgangs, die Preisgabe bloßer Imagination im Bereich des Gesellschaftlichen… Goethes Italienische Reise ist ein Grundwerk zum Verständnis der geistigen Welt ihres Verfassers.“
Mayer: Erst der 80jährige Goethe hat 1829 den dritten Teil der Italienischen Reise herausgegeben. Darin wird aus aller Erkenntnis von Natur, Gesellschaft und Kunst auch die Maxime der Lebensgestaltung gewonnen: »Daß der Moment alles ist, und daß nur der Vorzug eines vernünftigen Menschen darin bestehe, sich so zu betragen, daß sein Leben, insofern es von ihm abhängt, die mögliche Masse von vernünftigen, glücklichen Momenten enthalte.«[3]

[1] Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, Deutscher Klassiker-Verlag, Berlin 2011 Bd.1, S. 518ff oder Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, Sämtliche Werke Hanser Verlag, Band 15 München 1992, S. 572ff
[2] Hans Mayer, Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963
[3] ebenda, S. 77