NDR auf dem Weg zur Selbstliquidierung

Mit dem „Aus“ für das »Bücherjournal« zum Dezember 2020 legt der NDR die Axt an die Wurzel seiner Legitimation. Was den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk vom Privatrundfunk unterscheidet, ist sein Bildungs- und Kulturauftrag. Die Realisierung dieses Auftrages sichert dem Rundfunk über die Gebührenzahlung der Bürgerinnen und Bürger seine Existenz.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk wird im Auftrag der Gesellschaft veranstaltet. Die Bürgerinnen und Bürger sind es, die mit ihren Gebühren den Rundfunk finanzieren, damit er seinen Auftrag erfüllt. In seinem Urteil vom 4.11.1986 hat das Bundesverfassungsgericht erneut eine essentielle Funktion des Rundfunks für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik festgestellt. Es ist also nicht der Rundfunk, der aus seiner Aufgabe heraus eine Mäzenatenfunktion wahrnimmt, sondern, wenn überhaupt, ist es die Gesellschaft, sind es die Bürgerinnen und Bürger, die sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten. Programme, wie sie der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Wahrnehmung seines Kulturauftrages veranstaltet, sind also keine freiwilligen Leistungen eines Mäzens, sondern eine Pflichtleistung im Auftrag der Gesellschaft.

Der Verfassungsrechtler Prof. Dieter Grimm hat bereits 1983 in einem Vortrag zum „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“ exemplarisch für den Rundfunk folgendes ausgeführt: „Aus der Zugehörigkeit des Rundfunks zur Kultur folgt die Notwendigkeit einer kultur-rechtlichen Interpretation der Rundfunkfreiheit….Als kulturelle Freiheit bezieht sich Rundfunkfreiheit auf das Programm und seine spezifisch publizistische Ausdrucksform. Dagegen sind kulturelle Freiheiten weder wirtschaftliche Freiheiten noch garantieren sie regelmäßig private Strukturen. Eine den kulturrechtlichen Anforderungen entsprechende Rundfunkordnung muss ein kulturell angemessenes Programm gewährleisten. Dazugehört sowohl die Vermittlung kultureller Grundlagen von Person und Gesellschaft als auch ein zugänglicher Anteil kultureller Sendungen im engeren Sinne“.

Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und auch ehemalige Rundfunkredakteur Hans Mayer hat in weit über 100 Literatursendungen des NDR zum kulturellen Profil des Senders wesentlich beigetragen. Neben dem literarischen Lebenswerk als Autor und dem pädagogischen Lebenswerk als Hochschullehrer kann man die rundfunkpolitische Tätigkeit als drittes Lebenswerk Hans Mayers bezeichnen.

Im Dezember 1991 hat Hans Mayer zur 150. Veranstaltung der Traditionsreihe »Autoren lesen im Funkhaus«, als Jubiläumsredner gesprochen. Fast vorausschauend formulierte er zum Schluss seiner Rede sinngemäß über den Zerfallsprozess der einstmals produktiven Kulturen in Deutschland: der Adelskultur, die sich bereits im neunzehnten Jahrhundert in Relikten verlor; der jüdischen Kultur, die nach 1933 vertrieben und vernichtet wurde; der proletarischen Kultur, die sich nie von den Schlägen erholte, die Hitler ihr zufügte; schließlich der bürgerlichen Kultur, die teils zustimmend, teils ohnmächtig ihre Selbstzerstörung erlebte und deren letzte Reste unter den heutigen Bedingungen einer Wegwerfgesellschaft kaum noch kenntlich sind.

In einem Brief an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks, Joachim Knuth, fordert Heinrich Bleicher-Nagelsmann, der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, diesen auf, von der Abschaffung des »Bücherjournals« Abstand zu nehmen.
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Der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di hat eine Aktion auf change.org gestartet: eine virtuelle Unterschriftenliste. Den Aufruf kann man hier unterschreiben und auch weiterverbreiten. Link http://chng.it/WpvXJWVn

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Im Auftrag des Intendanten Joachim Knuth hat Herr Beckmann vom NDR geantwortet:

Sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,

vielen Dank für Ihre E-Mail vom 14. Mai 2020, in der Sie Ihr Bedauern darüber äußern, dass das „Bücherjournal“ eingestellt wird. Herr Knuth hat mich gebeten, Ihnen zu antworten, was ich gerne mache. Auch uns ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen. Der Norddeutsche Rundfunk muss jedoch in den kommenden Jahren Einsparungen und Kürzungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß vornehmen und gleichzeitig in die digitale Zukunft geführt werden. Dazu muss auch die Kultur einen Beitrag leisten, der übrigens – auch prozentual betrachtet – wesentlich geringer ist als zum Beispiel der Beitrag der Unterhaltung.
Es ist jedoch nicht unsere Absicht, durch die Einstellung der Sendung „Bücherjournal“ Ende dieses Jahres den Stellenwert der Literatur im NDR zu mindern. Das Gegenteil ist der Fall. Unser Ziel ist es aber, dass Literatur-Angebote zukünftig von mehr Menschen gesehen, gehört und gelesen werden, als dies jetzt der Fall ist. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass das „Bücherjournal“ als lineare Fernsehsendung, sechsmal im Jahr ausgestrahlt, zu wenig Menschen erreicht, mit fallender Tendenz. Deshalb haben wir entschieden, diese Form des Angebots künftig bleiben zu lassen und uns auf neue Wege der Kultur- und Literaturvermittlung zu begeben.
Dafür wird es in der Sendung „DAS!‘ einmal monatlich einen Buchtipp für Belletristik geben, in dem auch Bücher jenseits von Bestsellerlisten vorkommen. Darunter werden auch solche Beiträge sein, die bisher noch im „Bücherjournal“ laufen. Diese Rubrik wird auch bei NDR 2 und online zu finden sein. Außerdem wird „DAS!“ einmal pro Woche ein Buch und den*die Autor*in in den Mittelpunkt der Sendung stellen. Damit erreicht der NDR pro Ausstrahlung ungefähr eine halbe Millionen Menschen. In der von Julia Westlake moderierten Sendung „Kulturjournal“ wird es weiterhin auch um Bücher und Literatur gehen. Inhalte wie „Das Buch des Monats“ werden multimedial verbreitet und sind in der Mediathek jederzeit auffindbar.
Zudem wird der NDR dieses Jahr erstmalig einen großen Büchertag in Hörfunk, Fernsehen und Online anbieten, orientiert an der Idee der erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Der Norden liest“. Bekannte und unbekannte Autor*innen stellen dabei ihre Bücher vor.
Außerdem entwickelt der NDR in seinem Innovationslabor THINK RADIO derzeit einen neuen Bücher- und Literaturpodcast, der ab dem 12. Juni 2020, ab 16:00 Uhr abrufbar sein wird. Das Format soll aktuelle Bücher sowie deren Auto*rinnen mit ihren Themen auf innovative Weise einem breiten Publikum nahebringen.
NDR Kultur beschäftigt sich täglich mehrmals mit Literatur in den Sendungen „Am Morgen vorgelesen“, werktags, 8:30 – 9:00 Uhr, „Am Abend vorgelesen“, werktags, 22:00 – 22:30 Uhr und der „Sonnabend-Story“, sonnabends, 8:30 – 9:00 Uhr.
Die Rubrik „Neue Bücher“ läuft werktags, 12:40 Uhr. „Stoltenberg liest“ dienstags um 7:20 Uhr und 12:40 Uhr. Jeden ersten Sonnabend im Monat präsentiert NDR Kultur von 18:00 bis 19:00 Uhr „BücherLeben“. Auch im „Sonntagsstudio“ von 20:00 bis 22:00 Uhr bringt NDR Kultur die Literatur in den Norden.
Zurecht verweisen Sie – Ihrem Stiftungsauftrag folgend – auf die Hervorbringungen von Hans Mayer für den Hörfunk. Gerne gebe ich Ihren Hinweis an die Kolleg*innen weiter.

Ich hoffe, dass Sie für unsere Entscheidung Verständnis haben, auch wenn Sie sie nachvollziehbar bedauern.

Mit freundlichem Gruß
Frank Beckmann

»Hell aus dem dunklen Vergangnen …«

Arbeiterbewegung und 1. Mai

„In Deutschland nahmen die Arbeitslosigkeit und die Streiks dramatisch zu, es häuften sich die Straßenkrawalle. Knapp zwei Monate vor Nexös Geburtstag hatte Berlins SPD-Polizeipräsident Karl Zörgiebel die Maidemonstrationen untersagt. Als sich die Kommunisten über das Verbot hinwegsetzten, ließ Zörgiebel auf die demonstrierenden Arbeiter schießen. 31 Tote, auch zufällige Passanten, Hunderte Verletzte und Verhaftete waren die traurige Bilanz. Bald nach dem Geburtstag entschloß sich Nexö, seinen Wohnsitz am Bodensee aufzugeben und nach Dänemark zurückzukehren.“[1] Dort hatte man den 60. Geburtstag des „verlorenen Sohnes“ und ehemaligen Sozialdemokraten von Seiten der regierenden dänischen Sozialdemokratischen Partei mit großem Aufwand gefeiert. Auch aus Rußland trafen Glückwünsche ein und Alexandra Kollontai, die sich gerade in Oslo aufhielt, meldete sich ebenfalls. Im September 1931 reiste Nexö auf Einladung des Staatsverlages für Belletristik nach Moskau.

Bereits im Juni 1912 hatte Lenin die »Prawda« aufgefordert, den Roman „der aus der Feder des bekannten dänischen Schriftstellers Nexö, den die ernste sozialistische Presse den skandinavischen Gorki nennt“ zu veröffentlichen. Beim Besuch in Leningrad wandelte man den Vergleich Lenins um und behauptete, die Stärke und Bedeutung des Romans »Pelle«[2] verdanke der Autor „einzig und allein dem Einfluß Gorkis, der den proletarischen Entwicklungsroman geschaffen habe.“[3] Diese Behauptung erbitterte den Dänen ebenso wie die, er habe im wesentlichen Werke der Autobiographie geschrieben.

In seinem Essay »Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer«[4] stellt Hans Mayer fest: „Anderson Nexö hatte Recht. Nur eine Betrachtung, die sich mit der bloßen Romanfabel, der Stoffwelt in einem engen Sinn, zu begnügen pflegt, konnte den Dänen … zum »Schüler« Gorkis machen. … Nur scheinbare Übereinstimmung der Themen bei beiden: die Entwicklung der dänischen und der russischen Arbeiterbewegung um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. … Streiks und Aussperrungen, kraftlose Ohnmacht von Erniedrigten und Beleidigten, dann aber Genossenschaft, Organisation, siegreiche Vereinigung. “[5]

Umfassend, über Jahrzehnte und detailliert erzählt Nexö das Werden der Arbeiterbewegung mit Niederlagen und Siegen, dem Leiden und Kämpfen. Prägend und eindringlich werden auch beispielhafte Handlungen, Charaktere und identifikationsstiftende Artefakte wie die traditionsreiche „Rote Fahne“ geschildert. „Die Jungen standen schweigend da und starrten die Fahne an, die soviel mitgemacht hatte und gleichsam das heiße rote Blut der Bewegung war. Vor Pelle entrollte sich eine ganz neue Welt. … Wenn er es nun gewesen wäre, der das glühende Tuch gegen die Unterdrücker geschwungen hätte – er.“[6]

Die Kongruenz der Themen, Kämpfe und Entwicklungen betreffen sowohl den 1907 erschienen Roman Gorkis »Die Mutter«, als auch das in diesem Zeitraum geschriebene Buch Nexös »Pelle der Eroberer«. Dass Nexö kein Schüler Gorkis ist – im Geburtsjahr liegen sie nur ein Jahr auseinander – zeigt nach Mayers Darstellung deutlich die „literarische Herkunft“ der Schriftsteller. Die frühe Entwicklung Gorkis sei undenkbar ohne Tschechow. Martin Anderson Nexös Entwicklung müsse in der geistigen Korrelation zu Henrik Pontoppidan[7] gesehen werden. 1917 erhielt dieser den Nobelpreis für Literatur, insbesondere auch für seinen Roman »Hans im Glück«, den sowohl Bloch[8] als auch Lukács[9] schätzten. Übersetzt wurde er für den Leipziger Kippenberg-Verlag durch Mathilde Mann, die für den gleichen Verlag 1912, zwei Jahre später, den zwischen 1906 bis 1910 geschriebenen Roman »Pelle der Eroberer« übersetzte.

Hans Mayer stellt über formale Nachfolge die Frage, worin Nexös Roman dem Vorbild Pontoppidans treu blieb – und worin er sich ihm entzog. „Auch diese Geschichte des Hans im Glück beginnt, wie später jene des kleinen Pelle, in Lebenszuversicht und Erobererstimmung.“ Pelle ist allerdings mehr Typ als Charakter, wie Gorkis »Mutter«. „Er ist dann weit weniger der Knabe und Junge und Mann Pelle, als der „Repräsentant einer langsam und schwerfällig sich emanzipierenden Arbeiterklasse.“[10]

Nach einer Parallelreflektion zum Romanmosaik von Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« kommt Mayer zu der Schlussfolgerung: „Andersen Nexös Buch bedeutet eine Weiterführung -und gleichzeitig eine Umkonzipierung – der Geschichte vom »Hans im Glück«. Bei Pontoppidian erwies sich der Titel am Ende als traurige Ironie. Pelle wird wahrhaft als Glückskind und Eroberer dargestellt.“[11]

In »Morton der Rote« schreibt Nexö die Geschichte von Pelle und seinem Freund Morton fort. Dort allerdings hat sich Pelle zu einem sozialdemokratischen Minister entwickelt, der nicht mehr mit des Autors Sympathie für »Pelle« versehen und entwickelt wird. Als vom Übergang zum Kommunismus geprägter, auf eine andere Geschichte zurückblickender Mann, gelingt es dem Autor 40 Jahre später nicht, eine organische Verbindung der beiden Romanwerke herzustellen. Mayer stellt fest: „Man muß von einem sonderbaren Vorgang einer Zurücknahme und Umfunktionierung des eigenen Jugendwerkes sprechen.“ Das allerdings tut dem Stellenwert und der Qualität des »Pelle« als eines ausgezeichneten literarischen Werkes über das Werden und den Durchbruch der schwedischen Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg keinen Abbruch.[12]

Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Dänemark und auch in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg war natürlich, wie auch die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zeigt, eine historisch völlig andere Situation als die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Der stark reformistische Charakter der Sozialdemokratie trieb auch die zwischen SPD und KPD stehenden Sozialisten in der Weimarer Zeit um. In der Zeitschrift »Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung«, die der junge Hans Mayer mit anderen Linkssozialisten in den Jahren 1930 und 1931 herausgab, heißt es in einem Artikel zum 1. Mai 1931: „ Das Erstarken reformistischer Gesinnung in den Reihen des Proletariats, das Anwachsen des kleinbürgerlichen Elements in der SPD verändert völlig den Charakter der Maifeier…. Aus dem Kampftag wurde ein kleinbürgerlicher Festtag. … 1. Mai 1931. Das darf und kann kein Tag sein der beschaulichen Erinnerung und der behaglichen Festesfreude. Eine solche Feier ist ein Hohn auf die wirkliche Lage der Arbeiterschaft.“[13]

[1] Aldo Keel, Der trotzige Däne. Martin Andersen Nexö, Berlin 2004 S. 188f
[2] Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer, Gesammelte Werke Band 1 und 2, Berlin 1951
[3] Keel, Der trotzige Däne, S.193
[4] In: Hans Mayer, Weltliteratur, Frankfurt am Main 1997, S. 310-324
[5] A.a.O., S. 311
[6] Martin Andersen Nexö, Pelle, S. 100
[7] Henrik Pontoppidan (24. Juli 1857-21. August 1942), dänischer Schriftsteller, der vor allem als Erzähler hervortrat. Mit »Hans im Glück«, zunächst zwischen 1898 und 1904 in acht Bänden veröffentlicht, schuf er einen der umfangreichsten und bedeutendsten Romane der dänischen Literatur. Siehe: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Henrik_Pontoppidan (Zugriff: 28.4.2020)
[8] Siehe: Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 83-88. Im Netz unter: http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/bloch.html (Zugriff 29.4.2020)
[9] Siehe: Georg Lukács, Theorie des Romans, Darmstadt 1965, S. 96-113 http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/lukacs.html (Zugriff 29.4.2020)
[10] HM, Martin Andersen Nexö, S.315
[11] A.a.O, S.317
[12] Dass dieses Thema auch heute noch Zuwendung und sogar renommierte Preise gewinnen kann, zeigt der 1987 von Bille August produzierte Film, mit dem er 1989 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt.
[13] Peter Friedemann / Uwe Schledorn (HG), Aktiv gegen Rechts. Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung 1930-1931, Dezember 1994, S. 94

WEISSGERÄUSCHE in Wuppertal

Erinnerungen an Paul Celan zu seinem 50. Todestag

Zu seinem 60. Geburtstag im März 1967 erhielt Hans Mayer eine von Walter Jens und Fritz Raddatz herausgegebene Festschrift.[1] In ihr enthalten war auch als Erstdruck ein Gedicht von Paul Celan. Es begann mit den Worten

„WEISSGERÄUSCHE, gebündelt,
Strahlen-
gänge
über den Tisch
mit der Flaschenpost hin.“[2]

Hans Mayer verstand das Gedicht als Erinnerung an die erste gemeinsame Begegnung in Wuppertal im Oktober 1957. Es war auf einer Tagung zu dem Thema »Literaturkritik – kritisch betrachtet«, auf der er nicht nur Celan und Ingeborg Bachmann sondern auch Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens kennenlernte; Heinrich Böll kannte er schon von einer früheren Begegnung. Er interpretierte es, bezogen insbesondere auf den letzten Vers, als „ein Gedicht wo zwei Juden einander erkennen an den – im geistigen Sinne – Verschlüssen der Gebetsriemen, an den Gelenken.“[3] Die zitierten Anfangszeilen blieben ihm aber verschlossen. Bei einem späteren Treffen in Paris fragte er Celan und der antwortete: „Aber wir haben damals doch in Wuppertal über das Gedicht als Flaschenpost gesprochen. Sie haben da die These von Adorno ʹKann ein Gedicht eine Flaschenpost sein?ʹ diskutiert. Die ʹWeißgeräuscheʹ sind die Papiere, die dort auf dem Tisch hin und her gingen.“[4] Im weiteren Verlauf des Interviews erläutert Mayer dann, dass Celan unter gar keinen Umständen ein „hermetischer“ oder „monologischer“ Dichter sei.

Ausführlich macht Mayer dies in seiner »Erinnerung an Paul Celan«[5] an mehreren Gedichten deutlich. Zur Zeit Mayers als Hochschullehrer in Hannover kam Celan dorthin zu einer Lesung aber auch zur Arbeit mit Studenten bei der Interpretation seiner Gedichte. In seinen Texten suchte er auch immer die Anrede mit Formulierungen wie „hörst du“ oder „weißt du“. Mayer stellt fest: „Celan liebte Genauigkeit.“

Das herausragendste Beispiel dafür ist Celans Büchnerpreis-Rede von 1960.[6] Sie ist nicht leicht zu lesen, aber im Vergleich mit anderen Preisträger-Reden eine der präzisesten Darlegungen über Büchners Verständnis von Kunst sowie über Celans Theorie von Kunst und Dichtung. Den inhaltlichen Anstoß dazu hatte Mayer für Celan im Frühjahr 1960 gegeben, als er vor französischen Germanisten der »École Normale Supérieure« ein Büchner-Seminar gehalten hatte.[7] Zu dem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, einer der Teilnehmer, Paul Celan, den Büchnerpreis bekommen sollte. In seinem Artikel »Paul Celans Büchnerpreis-Rede« macht Mayer wunderbar einleuchtend den Ablauf, Inhalt und Bezug zu Büchners ästhetischer Auffassung deutlich. Darüber hinaus erklärt Mayer überzeugend, dass Celans Rede eine explizite Gegenposition zu der des ersten Büchnerpreis-Trägers Gottfried Benn ist, dessen Namen in der Rede aber überhaupt nicht erwähnt wird. „Wer Celans Ablehnung alles Redens von »monologischer Lyrik« kennt, mitsamt der Marburger Rede Gottfried Benns über Probleme der Lyrik wird die obstinate Wiederholung der Anrede [der Zuhörerinnen und Zuhörer Celans] als folgerichtig empfinden bei einem Lyriker, der auch im Gedicht stets das Du sucht, das Gespräch: Adressaten und Partner.“[8]

Zum letzten Mal hat Mayer Celan bei der Hölderlin-Tagung am 22. März 1970 in Stuttgart gesprochen. Warum der Dichter bald darauf ins Wasser ging, weiß Mayer nicht. Er zitiert aus dem Nachruf des ehemaligen Feuilletonchefs der »Neuen Züricher Zeitung« Werner Webers, zu Celan: »Jetzt hat er das Leben verlassen. Sein Weggehen hat Entsprechungen in seinen Gedichten, wo das Umgangsreden abschwinden mußte, damit die Sprache buchstäblich >zu Wort< kommen kann. Zum letzten Wort an der Grenze des Verstummens.«[9]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift herausgegeben von Walter Jens und Fritz Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1967
[2] Ebenda, S.105
[3] Hans Mayer Interview zu Paul Celan im Gespräch mit Jürgen Wertheimer am 11. März 1997 in: arcadia / Volume 32 (1997) Heft 1 S. 298-300
[4] Ebenda S.298
[5] Dieser Aufsatz findet sich im Band II der Erinnerungen von Hans Mayer (S. 312-328) und textgleich in HM, Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1998, S. 122-141
[6] https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/paul-celan/dankrede
[7] HM, Paul Celans Büchnerpreis-Rede 1960. »Der Meridian«, in: HM, Zeitgenossen S.142-157
[8] A.a.O., S. 144
[9] HM, Erinnerungen II, S. 327

 

 

Jost Hermand
Ehrenmitglied der HMG

Zu seinem 90. Geburtstag hat die Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG) Professor Jost Hermand die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Die erste persönliche Begegnung zwischen Hans Mayer und Jost Hermand war für letzteren im ersten Moment etwas irritierend. In seinen Erinnerungen an Hans Mayer schildert er sie so:

„Ich konnte es daher kaum erwarten, Mayer endlich persönlich kennenzulernen. Und das geschah unerwarteter Weise bereits am 27. dieses Monats [September 1971, HB], also kurz nach seiner Ankunft in Milwaukee, als es an meiner Haustür klingelte und er plötzlich dastand. Obwohl wir uns noch nie begegnet waren, gaben wir uns – wohlvertraut mit unseren Schriften – die Hände, als würden wir uns schon lange kennen. Er kam sofort herein und sagte ohne jeden Umschweif: „Herr Hermand, da ist vor kurzem ein Buch über die Zeitschrift »Der Rote Kämpfer« (1) erschienen, die ich und Richard Friedenthal 1931/32 in Berlin als KPO-Blatt herausgegeben haben. Das müssen Sie sofort lesen. Wissen Sie, der junge Hans Mayer, sehr interessant!“ Erst war ich über so viel Eitelkeit etwas pikiert, aber dann begriff ich, dass Mayer mit mir nicht über den Herflug, das Wetter oder derlei Belanglosigkeiten reden wollte, sondern dass ihm das Politische als das Wichtigste erschien – und fühlte mich eher geehrt als überrumpelt.“(2)

Urkunde für Jost HermandIn den Schriften von Jost Hermand – die Deutsche Nationalbibliothek weist auf über 200 Publikationen hin – finden sich in seinen Publikationen seit den 70er Jahren häufig Hinweise auf Hans Mayers Publikationen und Positionierungen. Bei manchen Verweisen heißt es „…von Hans Mayer im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser“.

Hans Mayer hat sich 1969, Anfang der 70er Jahre und nach seiner Emeritierung in Hannover längere Zeit in den USA aufgehalten. Dort finden sich auch die Anfänge und Fundierungen seines Buches »Aussenseiter« das er zu großen Teilen am »Lake Michigan« geschrieben hat. Zu den Personen, die ihm dabei mit „Ratschlägen wie Warnungen“ dienten, gehört neben anderen Freunden auch Jost Hermand. Der hat Mayer zu verschiedenen Tagungen an der Universität von Wisconsin als Referenten eingeladen. Zahlreich waren auch die Gespräche u.a. mit George L. Mosse und Reinhold Grimm sowie Jack Zipes, dem amerikanischen Übersetzer von Hans Mayer.

Ausgiebiger Diskussionsstoff zwischen den beiden im Kontext des »Aussenseiter«-Buches war natürlich Heinrich Heine. Dass beide ihn außerordentlich schätzten, war ohne Frage; aber es gab auch Differenzen. Eine davon war die unterschiedliche Einschätzung des berühmten Skandals »Heine contra Platen«. Hans Mayer hat dem in seinem »Außenseiter«-Buch einen längeren Abschnitt gewidmet(3), den er später in seinem Buch »Der Weg Heinrich Heines«(4) wieder aufgenommen hat. In einem Sammelband „Literatur im Historischen Prozess“ mit dem Titel »Signaturen – Heinrich Heine und das 19. Jahrhundert«(5) hatte sich Jost Hermand diesem Thema gewidmet.(6) Literarische Streitigkeiten waren in jenem Jahrhundert uptodate, aber der Heine-Platen-Streit „einmalig“. Das lesende Publikum konnte sich in solchen Fällen auf die eine oder andere Seite stellen, „nicht so in diesem Fall…. Schließlich wurden in diesem Fall zwei Tabus angerührt, für die es damals überhaupt noch keine »Öffentlichkeit« gab(7). Hans Mayers Einschätzung des Streites im »Aussenseiter« fasst Hermand dann als eine der wenigen »aufgeklärten« Positionen zusammen: „Mayer fällt daher keine Urteile. Im Gegenteil. Er sieht in dem Ganzen den geradezu tragischen Zusammenprall eines »Outsiders der Abkunft« mit einem »Outsider« der Geschlechtlichkeit.“(8)

Neben der moralischen und psychologischen Sichtweise macht Hermand dann eine in den späteren Jahren in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten zu Tage tretende „dritte, eher von politischen Gesichtspunkten ausgehendes Interpretation dieses Skandals“ aus, das heißt eine „Adelskritik im Zeichen der von der französischen Revolution proklamierten Freiheits– und Gleichheitskonzepte“.(9)

Laudation auf Jost Hermand, 2010


> Die Laudatio auf Jost Hermand, die Heinrich Bleicher-Nagelsmann im Namen der Vorbereitungsgruppe der Tagung »Literatur und Politik« im Jahr 2010 gehalten hat, beruht auf einem Text, den im wesentlichen Wolfgang Beutin, ebenfalls Mitglied der Vorbereitungsgruppe, geschrieben hat. >>>


Um den politischen Heinrich Heine ging es dann auch bei dem Heinrich-Heine Kongress im Dezember 1972 in Düsseldorf zum 175. Geburtstag des seinerzeit ungeliebten Sohnes der Stadt. Sowohl Jost Hermand als auch Hans Mayer waren bei dem Kongress mit dabei. Für den Rias in Berlin hatte letzterer einen Rundfunkbeitrag geschrieben, der in deutscher Sprache so nicht veröffentlicht worden ist. Er erschien 1973 als Eröffnungsbeitrag für die amerikanische Literaturzeitschrift »New German Critique« (NGC) deren Geburtshelfer Hans Mayer in den USA gewesen war.(10)

Mit seinem Vortrag zu »Heines >Ideen< im Buch >Le Grand<« stieß Hermand auf Ablehnung und Kritik der zahlreich anwesenden älteren Goethe-Verehrer, denn er hatte „vor allem die links-hegelianische, das heißt gegen den goetheschen Indifferentismus gerichtete Perspektive des jungen Heine herausgearbeitet“.(11) Hans Mayer stellte in seinem NGC-Beitrag fest, dass die Ablehnung dieses Beitrags letztlich nicht auf den Professor aus Wisconsin mit seinem gut fundierten Beitrag zielte, sondern auf „den Ehrengast selbst – Heinrich Heine.“ Immer noch ein Weltphänomen und ein „deutscher Skandal“. Was das meinte formulierte Mayer so: „…es sollte nicht missverstanden werden als ein nationales oder rassistisches Symptom, sondern mehr als Ausdruck einer bürgerlichen Schulmeisterei und ästhetischen Fehlleistung beim Verständnis eines Autors, der Aufklärung nie als bourgeoise Emanzipation betrachtet hatte.“(12)

Ausführlich hat Mayer diese Bewertung des politischen Heine in seiner Einleitung zu »Heinrich Heine – Beiträge zur deutschen Ideologie«(13) entwickelt. Dort verweist er übrigens auch im Hinblick auf Heines Sozialismusverständnis auf den sehr erhellenden Vortrag von Leo Kreutzer »Heine und der Kommunismus«(14).

Ein weiteres großes Themenfeld, bei dem Hans Mayer und Jost Hermand sich trafen und ausführlich austauschten, war die Exilliteratur. Vom 22. bis 24. Oktober 1971 fand der von Jost Hermand und Reinhold Grimm veranstaltete »Third Wisconsin Workshop« zum Thema »Exil und innere Emigration« statt. Mayer, der zu dieser Zeit in Milwaukee lebte, kam des Öfteren nach Madison und sprach auf der Tagung über den 1. Deutschen Schriftstellerkongress, der 1947 auf Einladung des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung in Berlin unter dem Vorsitz von Ricarda Huch stattfand.(15) Auf dem Kongress selbst hatte Mayer über die Rolle des Schriftstellers für die Gesellschaft gesprochen. Ebenso zum Thema Antisemitismus. In seinem Bericht zum Kongress, der in den »Frankfurter Heften« erschien, hatte er das Thema »Macht und Ohnmacht des Wortes« gewählt. Sein Fazit, der Schriftsteller „ist ohnmächtig, wenn er nicht die Gewalt des >j`accuse< kennt und anzuwenden weiß, die Macht des anklagenden Wortes.«(16)

In Wisconsin sprach Mayer darüber, warum der Versuch zur Schaffung einer friedlichen antifaschistischen Literatur „wegen des zu diesem Zeitpunkt einsetzenden Beginn des Kalten Krieges zwangsläufig scheitern mußte.“(17)

Viele Gespräch zwischen Mayer und Hermand zu jener Zeit in Milwaukee/Wisconsin hatten auch Musik und Malerei zum Thema. In dem schon genannten Gespräch über Hans Mayer stellt Hermand dazu zusammenfassend fest: „Für mich war diese Zeit eine der intellektuell bereicherndsten Phasen meines Lebens. Die zum Teil langen Gespräche mit ihm, egal über welche Themen, waren trotz vieler Übereinstimmungen stets aufregend. Und zwar ging es dabei nicht nur um Politik. Da Mayer merkte, wie viel mir die „klassische Musik“ bedeutete, zogen sich unsere Unterhaltungen darüber oft lange hin. Vor allem in unserer Hochschätzung Beethovens stimmten wir Beide überein. So erzählte er mir, dass er bei seinen Lukács-Besuchen in Budapest oft nach dem Tee mit Frau Lukács eine Beethoven-Violinsonate gespielt habe und pflegte das mit dem emphatischen Ausspruch „Das ist Kultur!“ zu bekräftigen.

Was er ebenso schätzte, waren Gespräche über die gesellschaftspolitischen Beziehungen zwischen Literatur und Malerei, mit denen ich mich vor allem in den erwähnten Akademie-Bänden in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren ausführlich beschäftigt hatte. Und er war dankbar für jede Anregung auf diesem Gebiet. Als er deshalb Ende Januar 1974 Wisconsin verließ und in die Bundesrepublik zurückkehrte, fühlte ich mich fast wie ein aus der deutschen Intellektuellenatmosphäre verbannter Exilant.“(18)

Es verwundert also nicht, wenn Jost Hermand sein Buch »Sieben Arten an Deutschland zu leiden«(19) auf Basis dieser Begegnungen nicht nur Walter Grab, Felix Pollak und George Mosse, sondern eben auch Hans Mayer gewidmet hat.

Heinrich Bleicher-Nagelsmann


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1. Gemeint war das Buch „Der Rote Kämpfer“ von Olaf Ihlau. Die neuste Veröffentlichung zu dem Thema mit Reprints der Ausgaben siehe Peter Friedemann / Uwe Schledorn (Hg.) Aktiv gegen Rechts Der Rote Kämpfer –. Marxistische Arbeiterzeitung 1930-1931, Essen 1994
2. Auszug aus einem Gespräch über Hans Mayer zwischen dem Vorsitzenden der HMG und Jost Hermand. Der gesamte Text wird zusammen mit anderen Gesprächen über Hans Mayer demnächst veröffentlicht.
3. HM, Aussenseiter, Frankfurt a.M. 1975, S. 277
4. HM, Der Weg Heinrich Heines, Frankfurt a.M. 1998, S.18f
5. Signaturen – Heinrich Heine und das 19. Jahrhundert herausgegeben von Rolf Hosfeld, Berlin 1986
6. A.a.O., S. 108-120
7. Hermand, a.a.O., S. 109. Es ging um Antisemitismus und Homosexualität, deren Verurteilung in der damaligen Gesellschaft gang und gäbe war
8. A.a.O., S. 111
9. A.a.O., S. 118
10. Siehe hierzu den Beitrag Hans Mayer der Schirmherr der »New German Critique« auf dieser Homepage
11. Jost Hermand, Zuhause und anderswo, Köln, Weimar, Wien 2001, S.164
12. «New German Critique« No. 1 (Winter, 1973), pp. 2-18. “…about the meaning of „German“ scandal: it should not be misunderstood as a national or even racist symptom, but more an expression of the bourgeois scholarly and aesthetic failure to understand an author who never equated Enlightenment with mere bourgeois emancipation.” Übersetzung durch den Autor
13. Wieder abgedruckt in HM, Der Weg Heinrich Heines, S. 57-86
14. Leo Kreutzer, Heine und der Kommunismus, Göttingen 1970
15. Erster Deutscher Schriftstellerkongreß – 4.-8. Oktober 1947 Protokoll und Dokumente, herausgegeben von Ursula Reinhold, Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger, Berlin 1997. Mayers Beitrag in Wisconsin stand unter dem Thema »Innere und äußere Emigration«. Über den Kongress berichtet Mayer auch in seinem Erinnerungsband I, S.387–396
16. HM, Ein Deutscher auf Widerruf I, S. 396
17. Hermand, Zuhause, S. 163
18. Siehe Fußnote 2
19. Hermand, Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979

»Pallaksch« – Hölderlin in dürftiger Zeit

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! Das wir das Offene schauen.“[1] Mit diesem Zitat aus Hölderlins »Brot und Wein« beginnt Rüdiger Safranski seine Annäherung an Hölderlin, dessen 250. Geburtstag wir am 20. März feiern können.

„Was also ist das für ein Feuer, das in Leben und Poesie Hölderlins brennt?“ Dieser Frage geht Safranski in seinem lesenswerten und sehr informativen Buch nach. Wie bei seinen Freunden aus dem Tübinger Stift, bei Friedrich Wilhelm Hegel und Friedrich Schelling, ist es das Feuer der Französischen Revolution, der Geist der Freiheit, der ihn, Hölderlin, beflügelt.

Von der Mutter zum Theologiestudium mit dem Berufsziel Pfarrer ausersehen, wendet dieser sich der Philosophie zu und wird zum Dichter. Doch die unzureichenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie die nicht ausreichende Unterstützung und Förderung Schillers, Goethes und anderer wie Fichte, wollen das großartig Neue des jungen Dichters nicht anerkennen. Sein hilfesuchender letzter Brief an Schiller wird nicht beantwortet. Interessant in diesem Kontext sind die Ausführungen Hans Mayers zu Schillers Elegie »Der Spaziergang« mit Hölderlins »Archipelagus« als Gegengedicht. Der „höfisch-bürgerliche Gesellschaftskompromiß“ der Generation Goethe und Schiller ist für die Generation von 1770 nicht mehr akzeptabel. Nach Mayers Sichtweise wird Hölderlins Dichtung zur „Gegenschöpfung“.

1801 nimmt Hölderlin eine Stelle in Bordeaux an. Schreibt, bevor er sich auf den Weg dorthin macht, an seinen gleichgesinnten Freund Casimir Ulrich Boehlendorff, der genau so wenig wie Hölderlin Zustimmung fand in seinem Vaterland: „Aber sie können mich nicht brauchen.“ Beide waren Dichter in „dürftiger Zeit“. Unter dieser Chiffre aus dem Gedicht »Brot und Wein« stellt Hans Mayer seinen Exkurs über Hölderlin in dem Buch »Das unglückliche Bewußtsein«. Er präzisiert: „Dürftige Zeit? Wohl eher ein Leben und Schaffen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Utopien und verlorenen Illusionen.“ [2] Es ist, so Mayer „ein revolutionäres Zeitalter, worin die Deutschen nicht als Subjekt auftreten, sondern zum Objekt werden.“[3] Hölderlin und seine Tübinger Freunde Schelling und insbesondere Hegel ebenso aber auch Beethoven verfolgen „teilnehmend und sehnsüchtig“ den Gang und die Auswirkungen der Französischen Revolution sowie die folgenden Kriege unter Napoleon.

Zurück aus Frankreich schreibt Hölderlin im November 1802 an den Freund Böhlendorff: „Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht commentiren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Karakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.
Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen für uns selbst; sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden.“[4]

Die Überlegung vom Dichter in „dürftiger Zeit“ – damals und heute führt Mayers Überlegungen zu Paul Celan und seinem Gedicht »Tübingen, Jänner«. Es geht Mayer bei der Interpretation des Gedichtes um einen Vergleich der dichterischen Möglichkeiten damals und jetzt. In einem Essay für Walter Jens hat Mayer das »Sprechen und Verstummen der Dichter«[5] u.a. am Beispiel »Tübingen, Jänner« interpretiert. Eine erhellende Lektüre sowohl in Bezug auf Hölderlin als auch Celan. Was unverständlich erscheint wird durch Mayers Interpretation klar. Bis hin zum Schlusswort des Gedichtes »Pallaksch«. In dem Hölderlin-Exkurs stellt Mayer abschließend fest: „Celans Gedicht handelt vom Dichter und der Dichtung in dieser Zeit. Es bezeichnet die Fallhöhe von Hölderlin zu Celan, die nicht als Dimensionsunterschied der Talente verstanden werden sollte, sondern als eine der Möglichkeiten, Gesehenes, Erinnertes, Verstandenes zur Sprache zu bringen. Ein Gedicht von er Dichtung, von der Sprache und dem progressiven Verstummen.“[6]

Für Hölderlin begann Ende 1802 der Weg in die „zweite Hälfte des Lebens“. Mit Unterstützung seines Freundes Sinclair wird er Hofbibliothekar in Homburg. Für den Landesvater, den Landgrafen von Hessen-Homburg, schreibt er die Hymne »Patmos«. Bekannt sind die Anfangszeilen: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“[7] Nicht allerdings für Hölderlin. Sein Freund und Unterstützer Sinclair wird wegen Hochverrat verhaftet. Statt in Kerkerhaft zu landen, wird Hölderlin in geistiger Verwirrung und mit einem entsprechend „fürsorglichem“, durch den Landgrafen veranlassten Gutachten, am 11. September 1806 gewaltsam in die Authenrit´sche Klinik nach Tübingen verfrachtet. Dort bleibt er bis zum 5. Mai 1807, 231 Tage. Dann beginnt die Turm-Zeit Scardanellis[8].

Peter Weiss hat in seinem Theaterstück »Hölderlin«[9] wieder aufgenommen, dass der Dichter am jakobinischen Traum seiner Jugend, dem „göttlichen Feuer“, festgehalten hat. Mayer stellt das Stück quasi als eine Synthese in der Nachfolge der beiden vorhergehenden Stücke »Marat« und »Trotzki« dar. Wie kann verändernde Praxis aussehen? Zwei Wege zur Vorbereitung einer grundlegenden Veränderung sind gangbar. Im Dialog zwischen Marx und Hölderlin werden sie dargestellt. Der eine Weg ist die Analyse der konkreten historischen Situation. Der andere die visionäre Formung tiefer persönlicher Erfahrung. Im Gegensatz zu Goethe, Schiller, Hegel und Schelling „als Vertretern der Alltagsvernunft“ steht Hölderlin für die utopische Permanenz der Revolution. „Die Revolution ist Hölderlins Wahn, aber damit ist sie gleichzeitig seine Vernunft.“[10] Für Hans Mayer stehen beide Wege nicht gegeneinander. Mit Thomas Mann ist er, entsprechend der Hölderlin-Interpretation von Pierre Bertaux[11] einig, dass beide Sichtweisen und Wege notwendig sind.

Heinrich Bleicher

[1] Rüdiger Safranski, Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund, München 2019. Siehe: https://www.perlentaucher.de/buch/ruediger-safranski/hoelderlin.html

[2] Hans Mayer, Das unglückliche Bewußtsein – Zur Literaturgeschichte von Lessing bis Heine, Frankfurt am Main 1986, S. 341

[3] A.a.O., S.343

[4] Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, herausgegeben von D. E. Sattler, Band 10, S.20

[5] In: Hans Mayer, Das Geschehen und das Schweigen – Aspekte der Literatur, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34

[6] Hans Mayer, Das unglückliche Bewußtsein, S. 354

[7] Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 10, S.15ff

[8] Das „Pseudonym“ Hölderlins, mit dem er die meisten Turmgedichte gezeichnet hat.

[9] Peter Weiss, Hölderlin – Stück in zwei Akten, Frankfurt am Main 1971

[10] Hans Mayer, Die zweifache Praxis der Veränderung, in: Der andere Hölderlin- Materialien zum >Hölderlin<-Stück von Peter Weiss, herausgegeben von Thomas Beckermann und Volker Canaris, Frankfurt am Main 1972, S. 205-216

[11] Siehe: Pierre Bertaux, Hölderlin und die Französische Revolution, in: Der andere Hölderlin- Materialien zum >Hölderlin<-Stück von Peter Weiss, herausgegeben von Thomas Beckermann und Volker Canaris, Frankfurt am Main 1972, S. 65-100

 

Herzlichen Glückwunsch Pieke!

Pieke Biermann  Foto: Wittmann

 

Mit ihrer grandiosen Übersetzung des Romans »Oreo« von Fran Ross hat Pieke Biermann den diesjährigen Preis für Übersetzungen der Leipziger Buchmesse gewonnen.
Hierzu gratuliert der Vorstand der Hans-Mayer-Gesellschaft seinem Gründungsmitglied sehr herzlich.
Pieke Biermann studierte Deutsche Literatur und Sprache bei Hans Mayer sowie Anglistik und Politikwissenschaft in Hannover und Padua. Seit 1976 ist sie freie Schriftstellerin und Übersetzerin, u.a. von Stefano Benni, Andrea Bajani, Dacia Maraini, Agatha Christie und Dorothy Parker. Nach dreimaliger Auszeichnung mit dem Deutschen Krimipreis ist ihr nun ein großartiger Erfolg mit der Übersetzung eines „Außenseiter“-Romans aus den 70er Jahren gelungen.
Das Urteil der Jury: „Fran Ross führt ihre Leser in ein widersprüchliches Amerika. Wie Pieke Biermann diesen temperamentvollen Text voller jiddischer Anleihen und Südstaaten-Slang übersetzt hat, ist ein einziger Genuss.“
Der DTV-Verlag über den Inhalt des Buches: „Oreo von Fran Ross ist ein bereits in den 70er Jahren erschienenes, kaum beachtetes, dann wiederentdecktes und jetzt übertragenes Buch über kulturelle Identitäten. Seine Autorin wurde 1935 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer schwarzen Mutter geboren – wie ihre Romanheldin, die 16-jährige Christine, genannt „Oreo“, die sich in New York auf die Suche nach ihrem Vater begibt. Dort trifft sie unglaubliche Leute: einen „Reisehenker“, der Manager feuert, einen Radio-Macher, der nicht spricht, einen tumben Zuhälter und endlich auch ihren Vater. Nicht jeder ist ihr wohlgesinnt. Aber Oreo überlebt alles dank ihres selbsterdachten Kampfsports WITZ.“
Auf den inhaltlichen Kern von »Oreo« geht der in Berlin lebende Lyriker Max Czollek in seinem Nachwort ein:
„»Oreo« ist ein großartiger Versuch, der Komplexität menschlicher Identitäten gerecht zu werden – kein identitätspolitisches Statement, sondern eine literarische Antwort auf die damals wie heute brennende Frage nach Verbindungen zwischen angeblich Gegensätzlichem – beispielsweise Schwarz und Weiß oder Jüdisch und Nichtjüdisch -, die in den herrschenden Narrativen kaum vorkommen.“
Die Geschichte einer jungen, schwarz-jüdischen Frau, die, nachgedichtet dem griechischen Theseus-Mythos, im New York der 70ger Jahre auf der Suche nach ihrem Vater ist, hier beschreibend nachzuerzählen, wäre müßig. Man/frau sollte das Buch über den „feministischen Anti-Theseus“ einfach lesen, um in den grandiosen Genuss einer hochaktuellen Geschichte zu kommen.

Heinrich Bleicher-Nagelsmann

Nachtrag: Hier einige Beiträge aus den Feuilletons:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/pieke-biermann-hat-oreo-uebersetzt-ich-liebe-chuzpe.976.de.html?dram:article_id=473281
https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/das_gespraech/Die-Freude-Unuebersetzbare-zu-uebersetzen,sendung1014598.html
https://www.perlentaucher.de/buch/fran-ross/oreo.html
https://www.tralalit.de/2020/04/29/saukomisch-sauklug-sauschwer/

 

 

 

 

 

 

„Leben ist kein Gang durch freies Feld“

Erinnerungen an einen großen Roman der Weltliteratur – Im Zeichen des Archivierens

Von Anne Bendel

Anlässlich des heutigen 130. Geburtstages des russischen Dichters Boris Pasternak will die Hans-Mayer-Gesellschaft an jenen großen Roman der Weltliteratur erinnern, den Hans Mayer zum Anlass nahm, einen seiner umstrittensten Essays zu schreiben – Doktor Schiwago.

Im November 1962 erschien bei Rowohlt der Band Ansichten. Zur Literatur der Zeit: „Eine Sammlung größerer Aufsätze, von denen einige passieren mochten, sogar solche über Kafka oder Sartre. […] Unzumutbar hingegen war ein Text über den „Doktor Schiwago““.[1] Mayer hatte sich von Anfang an „auf vermintes Gelände“[2] begeben, als er sich in seiner Studie der Analyse des Doktor Schiwago zuwendete. „Mit ihr griff er seinerzeit ein in der Sowjetunion und ihrem Herrschaftsbereich hochbrisantes kulturpolitisches Thema auf. In der Sowjetunion war eine Veröffentlichung des Romans verhindert worden“[3], wie Leo Kreutzer in seinem Essay Doktor Schiwago anders gelesen konstatiert. Pasternak hat 1958 den Nobelpreis abgelehnt – aus zutiefst politischen Gründen. Für Hans Mayer konnte eine Beschäftigung mit Pasternaks Roman nur in einem Fiasko enden. Hans Mayer, der seit Ende 1956, kurz nach dem Ende des Ungarn-Aufstandes, wie viele Intellektuelle in der DDR, systematisch von der Staatssicherheit überwacht wurde, hatte es gewagt die „Nicht-Parteilichkeit“ des Jurij Schiwago ernst zu nehmen – zum Missfallen der Partei, wie man wusste. Klaus Schuhmann war derjenige, der sich in einem Diskussionsbeitrag offen und in aller Härte über Mayers Publikation äußerte.[4] Daneben erschienen Anfang Mai 1963 zwei Artikel einer Serie von insgesamt elf Artikeln, die bereits im Titel auf eine Kritik des Essays über Pasternak hindeuten: Christa Wolf oder Boris Pasternak von Roland Opitz, erschienen am 1. Mai 1963 in der Universitätszeitung Leipzig (UZ) sowie Kunst ohne Parteilichkeit? Bemerkungen zu einem Aufsatz über Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ von Walter Dietze und Wolfgang Neubert, erschienen am 16. Mai 1963, ebenfalls in der UZ. Am 30. Mai erschien der Artikel mit dem Titel Eine Lehrmeinung zu viel – „Die meinige nämlich“[5], wie Hans Mayer in seinem Memoiren schreibt. Dieser Artikel war, zusammen mit dem Affront gegen seinen Essay über den Doktor Schiwago sowie der Einladung Peter Hacks‘ zu einer Lesung im Hörsaal 40[6], letztlich der Auslöser für seine Übersiedlung in den Westen. Schon aus diesem Grund möchte ich an jenen großen Roman der Weltliteratur erinnern, der selbst schon, wie Mayer festhält, „ein Buch der Erinnerung“[7] ist.

Nachdem Mayer in seinem Essay Doktor Schiwago das von Marc Chagall eigens zerstörte Bild mit dem Titel Die Revolution eingehend interpretierte, hält er fest:
Liest man den großangelegten, derart heftig umstrittenen Roman, so will es scheinen, als sei Marc Chagalls Revolutionsbild von 1937 gleichsam eine malerische Vorwegnahme dessen gewesen, was Pasternak mit der Geschichte des Dr. Jurij Andreitsch Schiwago geben wollte: ein Buch der Erinnerung; eine Darstellung des Nebeneinander von Kontinuität und Veränderung; eine Aufzeichnung des Gesehenen und Erlebten ganz ohne Parteinahme.[8]

Mayers Beweisführung bringt zum Ausdruck, dass „das Grundthema des Pasternak-Romans […] das totale Nicht-Engagement des Menschen[9] ist. Er erkennt in „Schiwagos Bekenntnis zum Nebeneinander, zur Parteilosigkeit, zur Akausalität gesellschaftlicher Vorgänge […] das geheime Gestaltungsprinzip des Pasternak-Romans“[10], welches er anhand der Szenen während Schiwagos Gefangenschaft bei den Partisanen zwischen Liberij Mikulízyn, Partisanenführer, und Jurij Schiwago, erläutert. Dieses Nebeneinander ist auch ein Prinzip, welches sich auf das Konzept des Erinnerns in Pasternaks Roman anwenden lässt.

Als der erwachsene Medizinstudent Doktor Jurij Schiwago an das Bett der kranken Anna Iwanowna, Mutter seiner späteren Ehefrau Tonja, tritt und zu ihr spricht, um sie zu beruhigen, sagt er:
Aber was ist das Bewußtsein? […] Wenn man bewußt einschlafen wollte, so wäre Schlaflosigkeit die Folge. Der bewußte Versuch, sich in den Vorgang der eigenen Verdauung einzufühlen, würde zu sicheren Störungen des Organismus führen. Das Bewußtsein ist Gift, ein Mittel der Selbstvergiftung für das Subjekt, das es an sich selber zur Anwendung bringt. Das Bewußtsein gleicht den Scheinwerfern einer Lokomotive. Sowie sich dieses Licht nach innen wendet, wird eine Katastrophe die unweigerliche Folge sein.[11]

Schiwago erklärt hier das Bewusstsein zu etwas Äußerem. Es ist der nach Außen gerichtete Teil, der dem Menschen den Weg weist und in dem er in Erscheinung tritt:
Was wird also aus Ihrem Bewußtsein? […] Was sind Sie eigentlich? […] In welcher Weise haben Sie eine Erinnerung an sich selber, welchen Teil Ihres Organismus haben Sie bewußt erkannt? Ihre Nieren, Ihre Leber, die Gefäße? Nein, wie sehr Sie sich auch erinnern wollen,   Sie haben sich immer nur im Äußeren erkannt, in einem tätigen In-Erscheinung-Treten, in den Werken Ihrer Hände, in der Familie, in der Gemeinschaft. Jetzt bitte ich aufzumerken: der Mensch in den anderen Menschen, das ist die eigentliche Seele des Menschen. Das ist es, was Sie sind. Das ist es, was Ihr Bewußtsein geatmet hat, wovon es sich ernährte, was das Leben erfüllte. Ihre Seele, Ihre Unsterblichkeit, Ihr Leben in den anderen – und nun? In den anderen haben Sie gelebt, in den anderen werden Sie auch bleiben. Und was wäre es für ein Unterschied, wenn das später Erinnerung genannt wird? Sie wären es, die eingetreten ist in den Zusammenhang, in den Zustand des Künftigen.[12]

Der Andere ist hier Bedingung für das Leben des Einzelnen, für das In-der-Welt-Sein, aber auch für das Weiterleben – in den Anderen und somit im Gedächtnis und in der Erinnerung. Für Schiwago ist das Leben eine stetige Erneuerung und kommt damit einer Auferstehung gleich, die für ihn bereits mit der Geburt einsetzt. Der Tod existiert für Schiwago nicht. Er wird transzendiert, dadurch, dass das Leben in stetiger Erneuerung stattfindet: „Es wird keinen Tod geben, sagt der Evangelist Johannes, und nun hören Sie wie einfach er argumentiert: Es wird keinen Tod geben, weil das Vergangene vergangen ist.“[13] Dadurch, dass das Leben in stetiger Erneuerung stattfindet, wird auch Schiwagos eigener Tod in der Vorwegnahme transzendiert. Dieser Aspekt ist eng mit dem Konzept des Erinnerns verbunden – der Andere als Voraussetzung dafür, dass das gelebte Leben erinnert und damit erfahrbar wird. Dabei spielt das Archiv als Ort der Speicherung von Wissen und Erfahrung, aber auch als kulturelles Gedächtnis[14] eine virulente Rolle. Die Erfahrung des Anderen mit dem Archivgut, kommt dabei, ebenso wie bei Schiwago das Leben, einer Auferstehung gleich. Das gelebte Leben, welches archiviert wurde, wird durch den Anderen erweckt und mit neuem Leben gefüllt. Das Archiv ist jedoch nicht Bedingung dafür, dass ein Leben erinnert wird – es ist der Andere, der das Erinnern befördert – durch das Lesen, Rezipieren und Weitergeben der Erinnerung. Sowohl das Archiv als auch der Andere sind als Medium zu verstehen, durch das Hindurch die Erinnerung erfolgt. Damit wird die Erinnerung notwendigerweise modifiziert und verändert, allein deshalb, weil das Erinnern durch ein Medium geschieht.[15] Erinnerungen finden sich jedoch nicht nur in Archiven, sondern ebenso sehr in Büchern, Aufzeichnungen, in zerstörten Bildern, wie jenes von Chagall eigens zerstörte Revolutionsbild, in Erzählungen Anderer, oder an Orten, die nicht im Archiv verzeichnet sind und auch nie jenes erreichen werden. Das Archiv ist eine Möglichkeit, ein Leben zu konservieren und es exemplarisch zu vermitteln. Trotzdem darf es nicht als die einzige Möglichkeit angesehen werden, an ein Leben zu erinnern.

Im Fall des Doktor Schiwago wird das Weiterleben in den Anderen und damit die Erinnerung letztlich durch die Veröffentlichung seiner Gedichte erzeugt. Für Mayer sind die Gedichte am Ende des Romans nur Pasternak-Gedichte, „Verse Pasternaks, [in denen], der Dichter […] seinem Helden den eigenen dichterischen Rang [leiht] – und […] dadurch alle Konturen der Romangestalt [verwischt].“[16] Für Mayer letztlich nur „ein verzweifelter Ausweg aus dem Dilemma aller Künstlerromane der Bürgerwelt.“[17] Tatsächlich hat sich erst die jüngste Forschung mit dem fünfundzwanzig Gedichte umfassenden Zyklus[18] am Ende des Romans beschäftigt. Dagmar Burkhart legte im Jahr 2000 die erste in sich geschlossene Interpretation aller fünfundzwanzig Gedichte vor. In ihrer Analyse Doktor Schiwago – neu gelesen stellt sie den Gedichtzyklus am Ende des Romans nicht als bloßen Anhang dar, sondern verleiht diesem „ein semantisches und strukturelles Eigengengewicht“.[19] Durch die Veröffentlichung der Gedichte wird Schiwago als Dichter nicht nur erinnert, sondern „erlebt ein zweites, metaphysisches Dasein“.[20] Die Erinnerung an den Dichter Schiwago ist damit an das Moment der Erfahrung mit dem Dokument verbunden.

Kurz nach Schiwagos Tod bittet Jewgraf Lara, Schiwagos Geliebte, mit ihm den Nachlass seines Bruders durchzugehen. Sie geht auf dessen Wunsch ein. In der letzten Szene des Epilogs zeigt sich die Wirkung der Schriften Schiwagos auf dessen Freunde Gordon und Dudurov:
Sie blätterten in dem von Jewgraf zusammengestellten Heft der Schriften Jurijs […] Unter  ihnen lag Moskau, die Stadt, die den Verfasser hervorgebracht und sein halbes Leben bestimmt hatte! Dieses Moskau schien ihnen im Augenblick nicht nur der Schauplatz all dieser Geschehnisse zu sein, sondern die Heldin einer langen Epopöe, an deren Ende sie angelangt waren – an diesem Abend mit diesem Hefte in der Hand. Wenn auch der Sieg die erhoffte     Aufklärung und Freiheit nicht gebracht hatte, so gab es doch eine Vorahnung der Freiheit; […] Den beiden altgewordenen Freunden am Fenster wollte es scheinen, als sei diese innere Freiheit schon errungen, als habe sich die Zukunft gerade an diesem Abend spürbar über die Straßen von Moskau niedergesenkt und als seien sie selbst in diese Zukunft eingetreten. […] Das Buch, das sie in den Händen hielten, wußte das alles und gab ihren Empfindungen Bestätigung und Sicherheit.[21]

Schiwagos hinterlassene Schriften scheinen auf die Freunde wie eine Antizipation auf das Zukünftige zu wirken. Durch das Lesen der Schriften des Jurij Schiwago wird nicht nur der verstorbene Dichter Schiwago erweckt, sondern auch die beiden Freunde des Dichters, Gordon und Dudurov. Beiden scheint es, als ob die Zukunft nicht vor ihnen läge, sondern sich in jenem Moment der Gegenwart bereits manifestiert hat. Hierin spiegelt sich Schiwagos eingangs erläutertes Konzept der Erneuerung des Lebens in jedem Augenblick.

In der Lyrik wird dies noch einmal verstärkt sichtbar. Das Konzept der Erneuerung des Lebens findet in den Gedichten Bestätigung, schon dadurch, dass der Gedichtzyklus nach Jahreszeiten gegliedert ist. Der Frühling ist dabei die stärkste Jahreszeit, in der sich alles erneuert. Die Parallelität, das Nebeneinander, wie es schon bei Hans Mayer, jedoch zuallererst auf die Figur des Jurij Schiwago im Prosateil bezogen, erscheint, stellt bei Burkhart eine zentrale Kategorie bei der Analyse der Gedichte dar. Schon im ersten Gedicht Hamlet wird diese Parallelität sichtbar. Das Leben und die Auferstehung werden nebeneinander gestellt: „Doch durchdacht rückt Akt um Akt nun näher: / Nichts, das sich dem End entgegenstellt. / Bin allein. Ringsum nur Pharisäer. – / Leben ist kein Gang durch freies Feld.“[22] So wie Schiwagos Leben, war auch Hans Mayers Leben „kein Gang durch freies Feld“ – es war ein einsames Leben inmitten eines Jahrhunderts der Verwirrungen und Erschütterungen. Der Erfolg und das Scheitern stehen sich bei Hans Mayer, ebenso wie bei Schiwago das Leben und der Tod, nicht gegenüber, sondern bilden eine Einheit. Aus diesen Zeilen des Hamlet-Gedichts geht ferner hervor, das Prosateil und Gedichtzyklus des Doktor Schiwago eine Einheit bilden. Jeder Akt wird in poetischer Form nacherzählt und findet in den Gedichten seinen komplexen Ausdruck. Auch das Leiden, in Form des Leids Christi, steht immer wieder im Mittelpunkt der Gedichte. Burkhart schreibt: „Durch die Verschmelzung des lyrisch-dramatischen Helden, eines Schauspielers in der Rolle Hamlets, mit der Christus-Figur treten die Seme /Schwäche/, /Stärke/, /Selbsttranszendenz/ als /Opfer/ sowie /Auferstehung/ hervor.“[23]

Im Prosateil wird das Leiden zunächst in der Figur der Mutter verkörpert: „Dann erkrankte die Mutter, die immer leidend gewesen war, an Tuberkulose.“[24] Ab dem Moment des Todes der Mutter leidet auch der zu dem Zeitpunkt zehnjährige Jura. Der Tod der Mutter antizipiert das im Roman fortlaufende Leiden und Sterben durch den Bürgerkrieg und die Revolution. Juras Trauer wird erst durch seinen Onkel Kolja, Nikolai Nikoláitsch, besänftigt, der ihn nach dem Tod seiner Mutter aufnimmt. Die Entwicklung des jungen Jura wird maßgeblich durch seinen Onkel beeinflusst. Neben der Mutter ist das Leiden auch in der Figur der Lara Fjodorowna, Juras späterer Geliebten, verkörpert. Dies zeigt sich schon früh in der Beziehung zwischen Lara und dem Rechtsanwalt Victor Ippolitowitsch, Komarovskij, der als Freund des verstorbenen Vaters, Lara und ihre Familie „unter seinen Schutz genommen hatte.“[25] Jura scheint die eigentümliche Beziehung zwischen Lara und Komarovskij bereits zu erahnen, als er Lara in seiner Jugend zum ersten Mal begegnet, ohne zu wissen, wer sie ist:
„Jura verschlang die beiden mit den Augen. Aus dem halbdunklen Vorraum, wo niemand ihn bemerkte, starrte er wie gebahnt in den Lichtkreis der Lampe. Die Szene zwischen dem gefangenen Mädchen und seinem Meister war unsagbar geheimnisvoll und furchtbar entlarvend. Neue und widersprechende Empfindungen drängten sich schmerzhaft in Juras Brust zusammen.[26]

Einerseits ist Jura von der Anziehungskraft Laras fasziniert, andererseits scheint es ihn zu erschrecken und zu schmerzen. Er erkennt, dass Lara eine Gefangene ist. Jahre vergehen, bis er sie auf einer Weihnachtsfeier, nachdem Lara einen Mordanschlag auf Komarovskij zu verüben gedachte, erneut sieht:
Als er sie sah, war Jura nahe daran, die Besinnung zu verlieren. ‚Sie also ist es! Und wieder unter außergewöhnlichen Umständen! […] sie war es also, die geschossen hatte? Auf den Staatsanwalt! Bestimmt gehörte sie irgendwie zu den ‚Politischen‘. Die Arme! Diese Sache wird ihr nicht gut bekommen. Wie stolz und schön sie ist! Diese Teufel aber ziehen sie an den Händen; sie verdrehen ihr die Arme wie einer überführten Diebin.‘ Doch hierin täuschte er sich.“[27]

Dass Lara nicht aus politischen Gründen, sondern aus zutiefst persönlichem Leid handelte, konnte Jura nicht ahnen. Er empfindet Mitleid, bleibt jedoch passiver Beobachter. Laras Leiden wird durch das Motiv des Teufels verstärkt. Es vergehen wieder einige Jahre bis Jura und Lara sich inmitten der Kriegswirren in einem Lazarett zum ersten Mal tatsächlich begegnen. In den weiteren Begegnungen zwischen Lara und Jura, die darauf folgen, wird das durch Tod und Zerstörung, durch Revolution und Bürgerkrieg hervorgerufene Leiden transzendiert:
„Noch mehr aber als die Seeleneinheit einte sie der Abgrund, der sie von der übrigen Welt trennte. Ihnen beiden war alles fatal Typische am heutigen Menschen gleichermaßen verhaßt – seine erzwungene Begeisterung, sein schreiendes Pathos und jene Ohnmacht, die in all den zahllosen Arbeiten in Kunst und Wissenschaft zum Ausdruck kam, während das Genie nach wie vor eine ganz große Seltenheit blieb. Ihre Liebe war sehr groß. Alle Welt liebt, ohne das Einmalige des Gefühls gewahr zu werden. Aber sie, und darin bildeten sie eine Ausnahme, empfanden und erkannten in jenen Augenblicken, da wie der Hauch des Ewigen sich der Atem der Leidenschaft über ihr todgeweihtes Dasein legte, immer neue Geschehnisse über sich selbst und über ihr Leben.“[28]

Hierin drückt sich das „Bekenntnis zum Nebeneinander, zur Parteilosigkeit, zur Akausalität gesellschaftlicher Vorgänge“[29], wie es Hans Mayer konstatierte, des Jurij Schiwago wie auch der Lara aus. „Erzwungene Begeisterung“, „schreiendes Pathos“, „jene Ohnmacht“ des modernen Menschen, waren beiden verhasst und so findet eben jenes oben erwähnte Bekenntnis in ihrer Liebe den höchsten transzendentalen Ausdruck. Die gegenseitige Liebe zwischen Jura und Lara ist dabei eng mit dem Leiden verbunden. Das Leiden findet seinen Höhepunkt mit dem Tod des Jurij Schiwago. So spricht Lara, als sie von Jura Abschied nimmt:
„Erinnerst du dich, wie ich damals im Schnee von dir Abschied nahm? Wie hast du mich getäuscht! Wäre ich denn je ohne dich gefahren? Oh, ich weiß, du tatest es meinetwegen, aber    es ging über deine Kraft. Und dann brach alles zusammen. O Gott, was habe ich erleben und erleiden müssen! Aber von alldem weißt du nichts. Oh, was habe ich angerichtet, was hab ich angerichtet! […] Die Seele findet keine Ruhe vor Qual und Reue. Aber das Wesentliche sage ich nicht; das enthülle ich nicht. Davon zu sprechen geht über meine Kraft.[30]

Kurz vor ihrem Verschwinden enthüllt Lara ihr Geheimnis dem Bruder Schiwagos. Mit dieser Szene endet der Roman. Das Geheimnis, welches Lara Jewgraf enthüllt, ist das Bekenntnis zu ihrem gemeinsamen Kind mit Jura, mit dem Namen Tanja, welches in den Wirren des Krieges verschollen ging. Zuvor hatte sie Jewgraf gebeten ihr in einer Angelegenheit zu helfen: „Es geht um ein Kind. Doch davon später, wenn wir aus dem Krematorium zurück sind.“[31] Jewgraf verspricht ihr zu helfen. Erst Jahre später findet Jewgraf Tanja, als Wäscherin arbeitend, bei den Freunden Gordon und Dudurov und erkennt in ihr die Tochter von Lara und Jura. Durch die Herausgabe der Gedichte wird nicht nur die Erinnerung an den Dichter Schiwago aufrechterhalten, sondern gleichsam an seine Geliebte Lara. Diese Liebe wird in den Gedichten in Erinnerung gerufen und mit neuem Leben gefüllt. Gerigk fasst zusammen:
„Im Zentrum [des Romans] geht es um die Liebesgeschichte eines verheirateten Arztes, Jurij  Schiwago, mit einer ebenfalls verheirateten Frau, Lara Antipowa. Nur für kurze Zeit erleben sie die Idylle einer ungestörten Zweisamkeit inmitten der politischen Wirrnis des Bürgerkriegs zwischen „Revolution“ und „Gegenrevolution“. Danach werden sie durch den Lauf der Dinge für immer voneinander getrennt. Lara sieht ihren Jurij nur noch als Leiche wieder. Innerlichkeit und Außenwelt stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und so kann Jurij Schiwago die Wirklichkeit seiner Seele (die für einen ewigen Augenblick mit Lara real wurde) nur in seinen Gedichten vor einer Zerstörung durch die Außenwelt retten.[32]

Die Gedichte sind also nicht nur an das biblische Moment der Auferstehung und die in der Natur durch das Frühlingserwachen sich vollziehende Erweckung geknüpft, sondern gleichfalls an das Moment der erwachenden Liebe sowie der schmerzvollen Trennung. Der Gedichtzyklus ist als „Speicher“ zu verstehen, der die im Prosateil geschilderten Ereignisse konzentriert darstellt, sie archiviert und für die Nachwelt konserviert. „Die Dichtung“, so schreibt Horst Jürgen Gerigk in seinem Aufsatz Pasternaks Doktor Schiwago und Dantes Vita Nuova: ein poetologischer Vergleich, „erlöst das Leben vom Tod.“[33]

Anhand dieser Ausführungen sollte demonstriert werden, dass das Nebeneinander von Leben und Tod, Geburt und Auferstehung sowohl für die Analyse des Prosateils als auch des Gedichtteils zentral sind. Weil durch die Romanstruktur die Gedichte am Ende in einem geschlossenen Zyklus gezeigt werden, und wie erläutert wurde, sich dieser auf die Geschehnisse im Prosateil bezieht, können Prosateil und Gedichtzyklus nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die Parallelität von Prosateil und Gedichtzyklus ist entscheidend um das Konzept des Erinnerns zu verstehen. Insgesamt ist Doktor Schiwago in „seiner ganzen poetischen Struktur auf ein Speichern und Erinnern bewahrungswerter Kulturbestände angelegt[er] [Roman]“, wie Andreas Guski in seiner Einführung über den Doktor Schiwago zusammenfasst. Weil dem so ist, müssen wir uns dem Bewahren widmen und an jenen großartigen Dichter Boris Pasternak erinnern, der heute, am 10. Februar 2020, 130 Jahre alt geworden wäre.

[1] Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II. Frankfurt a. Main, Suhrkamp: 1988, S. 244
[2] Leo Kreutzer (Hg.): Doktor Schiwago anders gelesen. Hans Mayers Leipziger Selbstbehauptung. In: Anders gelesen. Essays zur Literatur.  Wehrhahn Hannover: 2011, S. 128
[3] Ebenda
[4] Vgl. Mark Lehmstedt: Dokumente 1956-1963. Leipzig, Lehmstedt Verlag: 2007, S. 477 (Original TY: SächsStA Leipzig, Nr. IV/A/4/14/057; UAL R 23, S.74-81)
[5] Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II, S. 255
[6] Am 13. Dezember 1962 liest der Schriftsteller und Dramatiker Peter Hacks in Leipzig auf Einladung des Institutsleiters der Deutschen Literaturgeschichte, Hans Mayer, aus seinem Stück Die Sorgen und die Macht:  „Des Blondschopfs Stunde war gekommen. Zumal ich, als genügte sie nicht, die schlimme Sache mit Pasternak und Schiwago, alles noch schlimmer machte, indem ich mich außerdem noch für Peter Hacks einsetzte und sein offiziell stark befehdetes Theaterstück „Die Sorgen und die Macht““, so Mayer in seinen Memoiren. Weiter schreibt Mayer: „Hacks las bei uns zur selben Stunde, da Walter Ulbricht in seiner Geburtsstadt Leipzig in der Kongreßhalle eine richtungsweisende Rede hielt, die auch eine Verdammung des Theaterstücks über die Sorgen und die Macht einschloß.“ Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II, S. 244ff
[7] Mayer: Doktor Schiwago. In: Ansichten. Zur Literatur der Zeit. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt: 1962, S. 206
[8] Ebenda, S. 207
[9] Ebenda, S. 212
[10] Ebenda, S. 208
[11] Pasternak, S. 83f
[12] Ebenda
[13] Ebenda, S. 84
[14] Vgl dazu u.a.: Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin, Kadmos: 2009
[15] Vgl. Georg W. F. Hegel.: Phänomenologie des Geistes. Paderborn, Voltmedia: 2005, S. 69f.: „Oder ist das Erkennen nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.“
[16] Mayer: Doktor Schiwago, S. 224
[17] Ebenda
[18] Zur Forschungslage der Analyse der Gedichte als Zyklus, siehe Dagmar Burkhart: „Doktor Ziwago“ – neu gelesen. In: Ulrike Jekutsch, Walter Kroll (Hg.): Slavische Literaturen im Dialog. Festschrift für Reinhard Lauer zum 65. Geburtstag. Wiesbaden, Harrassowitz: 2000, S. 310f
[19] Ebenda, S. 309
[20] Ebenda, S. 329
[21] Ebenda, S. 607f
[22] Pasternak, S. 609
[23] Ebenda
[24] Pasternak, S. 11
[25] Ebenda, S. 30
[26] Ebenda, S. 76
[27] Ebenda, S. 104
[28] Ebenda, S. 467f
[29] Mayer: Doktor Schiwago, S. 208
[30] Pasternak, S. 589
[31] Ebenda, S. 584
[32] Hans Jürgen Gerigk: Pasternaks Doktor Schiwago und Dantes Vita Nuova: ein poetologischer Vergleich. https://www.horst-juergen-gerigk.de/aufs%C3%A4tze/pasternaks-doktor-schiwago-und-dantes-vita-nuova-ein-poetologischer-vergleich/, abgerufen am 09.12.2019. Gerigk analysiert in diesem Aufsatz die These, dass Dantes Vita Nuova ein poetologisches Vorbild für Pasternaks Doktor Schiwago gewesen sei. Dabei setzt er die Gedichte ins Zentrum seiner Analyse. Er geht davon aus, dass Schiwagos Leben in der Dichtung „seinen wahren Ausdruck gefunden hat: verdichtet zur Dichtung“. In Dantes Vita Nuova geschieht etwas Ähnliches. Gerigk erklärt, wie Dantes Liebe zu Beatrice ihn durch ihren Anblick „in eine von nun an sein Leben beherrschende Fixierung auf Beatrice“ versetzt. Dante fängt an, dies in einem oder mehreren Gedichten zu verzeichnen. So entsteht der Vergleich zu Pasternaks Doktor Schiwago. Letztlich argumentiert Gerigk, dass durch den Vergleich zu Dantes Vita Nuova, Pasternaks Roman „in die literarische Reihe der großen Liebesgeschichten des Abendlandes“ rückt. Dies ist eine interessante Wendung im Vergleich zu Hans Mayers Interpretation, der die Gedichte, wie oben erwähnt, als bloße Verse Pasternaks ansah und ihren Stellenwert für die Romangestalt Schiwago unterbewertet.
[33] Ebenda.

»Wir alle sind Leonore«

Der Regisseur Volker Lösch hat zum Jubiläumsjahr Beethovens »Fidelio« an der Bonner Oper in die Türkei verlegt. Auf Nachfrage der Zeitung »Die Zeit« erklärt er:

„Die Welt, die hier geschildert wird, ist ein großes Gefängnis. Und die Türkei ist in Europa das aktuelle Beispiel für einen autokratisch geführten Staat, in dem Regime­gegner durch Willkürjustiz im Gefängnis verschwinden und die Gewaltenteilung auf­gehoben ist. Wenn man mit Beteiligten spricht, wird einem bewusst, dass in der Tür­kei letztlich jede demokratische Rechtsprechung aufgehoben ist. Es liegt also auf der Hand, Fidelio dort spielen zu lassen. Die Figur des Florestan ist jemand, der die Wahrheit gesagt hat, heute könnte es ein Journalist sein, der daraufhin ohne Prozess in Isolationshaft gesteckt und gefoltert wird.“[1]

Nach Auffassung des Kulturredakteurs des Kölner Stadtanzeiger, Markus Schwering, dem als „politisches Statement … die Inszenierung vergleichsweise schlicht“, auf Grund eines „zweifellos wirkungsintensiven Schwarz/Weiß-Schemas“ erscheint, zeigt sie jedoch Oper „so aktuell wie noch nie“. Er kann also nicht umhin, der Inszenierung – mit einem deutlichen Lob für das Beethovenorchester unter Dirk Kaftan – Anerkennung auszusprechen, da sie tagespolitisch hochaktuell die Rele­vanz des Werkes gegen das Konsumbewusstsein eines „schönen“ Abends setzt.[2]

Erhellend sind durchaus auch seine angesprochenen Bezüge zur Wagnerschen »Ring«-Tetralogie und zum »Freischütz« von Carl Maria von Weber. Es scheint, als habe er bei Hans Mayer und dessen Ausführungen zu Beethovens nachgelesen. So heißt es in »Beethoven und das Prinzip Hoffnung«: „Pizarro lebt, wir alle wissen es. Auch Alberich hat die Götterdämmerung überlebt.“[3] Und präziser in »Der geschichtli­che Augenblick des »Fidelio«: „Pizarro ist wirklich, in jedem Augenblick auch unseres Daseins nach wie vor lebendig. Er hat überlebt.“[4] Im Vergleich mit dem Freischütz er­läutert Mayer auch den konkreten historischen Bezug der Entstehung des Fidelio im Kontext der französischen Revolution; es ist ein großer geschichtlicher Augenblick, „eine Konstellation, da das Prinzip Hoffnung ins Bewußtsein tritt“[5]. Leonore bedeutet in Hans Mayer Auffassung „die Vermenschlichung des Prinzip Hoffnung“[6]

Lösch erklärt in dem »Zeit«-Interview: „…sie und ich, wir alle sind Leonore. Leonore macht das, was wir auch machen würden, wenn wir Probleme mit einem System oder einer Justiz hätten, die unschuldige Freunde und Verwandte wegsperrt: Sie er­greift Partei. Als sie erfährt, dass Florestan sie nicht mehr erkennt, halb tot, wie er ist, beschließt sie, sich auch für die anderen Gefangenen einzusetzen. Ihr Weg führt sie vom Einzelschicksal hin zum Engagement für viele, vom Privaten zum Gesellschaftli­chen. Dieser Befreiungsimpuls springt am Ende auf die gesamte Gesellschaft über. Die Botschaft dieser Oper lautet: »Habe Mut, lass dich von niemandem einschüch­tern, und setze dich für die Freiheit aller ein. Dann kann das scheinbar Unmögliche möglich werden.« Wenn wir also Leonore sind, steckt in uns das Potenzial zur Verän­derung. Ganz konkret: persönliches und politisches Engagement, wenn’s sein muss, unter Lebensgefahr.“

An einer ganz anderen Stelle in seinem Werk, im Buch zu »Thomas Mann« geht Mayer noch einmal explizit auf Beethovens Musik ein. In Manns »Doktor Faust«, geschrieben im Exil zwischen 1943 und 1947, wird am Beispiel des Tonset­zers Adrian Leverkühn, in einem anderen geschichtlichen Augenblick, das Ende der bürgerlichen Kultur bezogen auf den Untergangsprozess der bürgerlichen Gesell­schaft entwickelt. „Das ist ein Buch vom Faschismus und ein Buch von den musikali­schen Elementen im deutschen Leben“, so Mayer[7]. Im Werk Leverkühns wird Beethovens Musik quasi zerstört. „Mit zunehmender Krankheit und Vereisung wird nicht bloß die musikalische Romantik [Beispiel »Freischütz«, HB] immer höhnischer zu­rückgewiesen, sondern überhaupt alle Musik, die noch zu Menschen und Herzen sprechen könnte. Es geht um die »Zurücknahme« der Neunten Symphonie, um eine Neunte Symphonie der Inhumanität.“[8] Der Teufel in Thomas Manns Roman argu­mentiert zeitweilig unter der Maske Adornos. Dieser hat Thomas Mann bei seinem Werk umfassend über die Musik beraten. Hans Mayer führt hierzu Erhellendes aus.

Umfassender hat Jost Hermand Adornos Position zu Beethoven in dem jüngst neu aufgelegten und erweiterten Werk ausgeführt. Unter dem Titel »Der vertonte Weltgeist« analysiert er Theodor W. Adornos nachgelassene Beethovenfragmente.[9] Dabei kommt er zu dem Ergebnis: „Diesem widerspruchsvollen Entwicklungslauf der Geschichte, der sich in Beethovens Musik auf eine zutiefst erregende Weise widerspiegelt, allerdings allein mit dem hegelschen Prinzip der Dialektik nahekommen zu wollen,… erscheint mir, so fruchtbar manche der damit verbundenen Einsichten auch sein mögen, auf weite Strecken höchst forciert.“

In acht dezidierten Untersuchungen von Beethovens Werken im Verlauf der Ge­schichte von der französischen Revolution bis zum reaktionären Ungeist der Metter­nich-Ära analysiert Jost Hermand mit umfassender historischer und musikalischer Kompetenz das Werk Beethovens, der „seinen früheren, weitgehend aufmüpfigen Freiheitshoffnungen“ treu geblieben ist. Äußerst lesenswert wird dies auch an Unter­suchungen zur Wirkungsgeschichte, die sich bis zu Fidelio-Inszenierungen im Span­nungsfeld zwischen Werktreue und Bearbeitung erstrecken. Man betrachte es nicht als „Eigenwerbung“, wenn dieses Buch des Gründungsmitgliedes der Hans-Mayer-Gesellschaft nachdrücklich zur Lektüre empfohlen wird.

Schließen möchte ich diese ersten Ausführungen zum Beethovenjahr mit den Worten Hans Mayers: „Der geschichtliche Augenblick des »Fidelio« war rasch vergangenen. Das Werk ist geblieben. Wer für sich dabei einen schönen Opernabend erwartet und nachher darüber räsoniert, ob Sopran und Tenor ihre Sache gut gemacht haben, hat dies einzigartige Werk nicht verstanden. Er hat dann – leider – auch sich selbst (uns selbst!) nicht verstanden: die Zeitgenossen unserer eigenen Tage und ihrer Tages­nachrichten.“[10]

[1] Die Zeit Nr. 2, S. 48 https://www.zeit.de/2020/02/beethoven-fidelio-volker-loesch-oper-bonn

[2] Siehe https://www.ksta.de/kultur/beethoven-jahr-beginnt-eine–fidelio–inszenierung-als-protest-gegen-erdogan-33687616 und

KStA vom 4./5. Februar Seite 4 „Oper – so aktuell wie noch nie“

[3] In Hans Mayer, Versuche über die Oper, Frankfurt 1981, S. 89, Schwering schreibt „Auch Alberich übersteht bekanntlich den Sturz der Götter“. Die entscheidenden Differenzen zwischen dem Schluss des »Freischütz« und des »Fidelio«, die Mayer klar benennt, führt er aber nicht an.

[4] Hans Mayer, Der geschichtliche Augenblick des »Fidelio«, in Hans Mayer, Augenblicke, Frankfurt am Main 1987, S. 305

[5] Wie Fußnote 3, S.87

[6] Wie Fußnote 4, S.304

[7] Hans Mayer, Kulturkrise und Neue Musik, in: ders., Ein Denkmal für Johannes Brahms, Frankfurt 21993, S. 203

[8] Hans Mayer, Thomas Mann, Frankfurt am Main 1980, S.305

[9] In: Jost Hermand, Beethoven – Werk und Wirkung, Wien, Köln Weimar 2020, S. 212 – 227

[10] Wie Fußnote 4, S. 307