„Vermittler zwischen den Sektoren und auch den Sektierern“ [1]

Claudia Wörmann-Adam

Erich Fried und Hans Mayer eine Freundschaft –
Zum 100. Geburtstag Erich Frieds am 6. Mai 2021

Hans Mayer erinnert sich nicht genau, wann er Erich Fried das erste Mal traf, nur dass dies schon kurz nach 1945 gewesen sein muss, als sich in rascher Folge Antifaschist*innen und Schriftsteller*innen auf unterschiedlichen Kongressen begegneten. Er ist sich aber ganz sicher, dass er vor Erich Fried gewarnt wurde: man sprach negativ über ihn, bezichtigte ihn von kommunistischer Seite der Zusammenarbeit mit der englischen BBC; das galt als Verrat!

In der Tat arbeitete Erich Fried eine Zeitlang als Rundfunksprecher beim BBC in London, seiner 2. Heimat, in die er als kritischer junger Wiener Jude vor den Nazifaschisten fliehen musste. Mayer erinnert sich, dass er auch schon früh auf dessen literarische Arbeit aufmerksam gemacht wurde, die sei interessant. Das war kurz nachdem Mayer seine Professur in Leipzig angetreten hatte.

Über Mayer ist häufig geschrieben worden, er sei in seinen Reaktionen harsch, aufbrausend und manchmal auch arrogant gewesen. Wenn man die Texte liest, die Mayer über Fried geschrieben hat, bekommt man einen ganz anderen Blick auf Hans Mayer: er schreibt sehr freundschaftlich, warmherzig, liebevoll fast zärtlich über Erich Fried, der ihm sehr viel bedeutet hat.

Erich Fried wurde am 5. Mai 1921 als einziges Kind von Hugo und Nellie Fried in Wien geboren. Die Familie war jüdisch; der Vater von Beruf Spediteur, die Mutter Grafikerin. Im Mai 1938 kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland wurde Hugo Fried bei einem Verhör durch die Gestapo zu Tode getreten. Der Mörder wurde nie verurteilt, sondern lebte nach dem Krieg in Düsseldorf und bezog eine Pension als Oberzollrat.[2] Dieser Mord führte dazu, dass Erich Fried als 17-Jähriger über Belgien nach London emigrierte wo er bis zu seinem Tod bleiben sollte. Es gelang ihm noch seine Mutter nach London zu retten, alle übrigen Verwandten wurden durch die Nazi-Faschisten verfolgt und umgebracht.

Erich Fried hatte schon als Kind begonnen zu schreiben und wurde einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er übersetzte kongenial Autor*innen englischer Sprache ins Deutsche darunter William Shakespeare, T. S. Eliot, Graham Green, Sylvia Plath und Dylan Thomas. Er mischte sich wie kaum ein anderer in politische Diskussionen ein, vertrat Positionen der damaligen außerparlamentarischen Opposition; demonstrierte und trat als Redner bei politischen Kundgebungen auf. Es heißt über ihn, dass er sich „in konservativen und rechten Kreisen einen Ruf als „Stören-Fried“ erwarb“.[3] Fried engagierte sich gegen den Vietnam-Krieg, für Frieden und Abrüstung, gegen Ausgrenzung und Rassismus, für Menschenrechte, gegen jede Form von Unrecht und er schrieb, neben vielen engagierten sehr politischen Gedichten, viele der schönsten modernen Liebesgedichte deutscher Sprache.

Erich Fried beim Antikriegstag 1979 in der Dortmunder Westfalenhalle     (Foto: HB)

Mayer sah in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Westberlin das von Erich Fried übersetzte Theaterstück »Unter dem Milchwald« von Dylan Thomas „dem genialischen Dichter aus Wales“. Er schreibt dazu: „Ich sah die Aufführung, dann las ich das Stück, dann hatte ich für mich zwei Autoren entdeckt: den Dylan Tomas, dem ich leider nie begegnen sollte, und den Erich Fried.“[4]

Er beschreibt, wie sich langsam eine Beziehung zwischen ihnen aufbaut, vor allem durch die regelmäßigen Treffen im Rahmen der „Gruppe 47“, der beide angehörten. Schon früh stellte sich bei Mayer ein Gefühl der Freundschaft für Erich Fried ein: „Seitdem bleibt bei mir der Eindruck vorherrschend, dass ich ihn immer schon kannte, und dass er immer schon mein Freund war.“[5]

Und weiter: „Es geht wohl noch auf jene mittleren fünfziger Jahre zurück, dass ich Erich Fried, dem Kind eines jüdischen Elternhauses zu Wien, von meinem jüdischen Elternhaus in Köln am Rhein erzählte. Von meiner Schulzeit, den albernen Schulaufsätzen, darunter einem mit dem besonders albernen Titel »Was ist uns Deutschen der Wald?«. Erich Fried lachte, als ich davon erzählte, dann verging ihm das Lachen. Man begreift, wenn man sein berühmt gewordenes Gedicht liest, das eben den Titel meines Primaneraufsatzes als Überschrift trägt: »Was ist uns Deutschen der Wald?«. Er hat mir das Gedicht gewidmet.“[6]

Hans Mayer beschreibt auch Dissonanzen, die es zwischen den beiden gab, die aber der Freundschaft nicht dauerhaft schaden konnten.

In seiner Rede anlässlich des 65. Geburtstages von Fried beginnt Mayer: „Eine Rede auf Erich Fried, sogar eine Geburtstagsrede? Noch dazu in seiner Anwesenheit? Da sollte man auf der Hut sein. Ich kenne ihn. Dann sitzt er da, und dichtet heimlich.“[7] Er beschreibt, wie er immer wieder beobachtet hat, dass Fried bei Vorträgen und Lesungen Gedichte schrieb, ihm die manchmal rüber schob, damit er sie begutachten sollte; gleichzeitig hörte Fried aber aufmerksam dem Gesagten zu und meldete sich voll konzentriert zu Wort. Für Mayer war es faszinierend, diesen Dichterprozess zu verfolgen: „Hier saß einer und schien überzuströmen vor Wörtern und Worten, Wortspielen und Wörtlichkeiten.“[8]

Er spricht von den „vier großen Begabungen“ Erich Frieds: die dichterische, die für den großen Zorn, die eines großen Clowns, und, wie er schreibt, „die vielleicht größte neben dem poetischen Ausdruckszwang: seine Begabung für Freundschaft“. Und weiter: „Ich habe selten einen Menschen gefunden, noch dazu in der Welt der Literaten, der so unzugänglich wäre für die beiden Todsünden Geiz und Neid. Erich Fried praktiziert das neidlose Lob, und seine Warnungen sind Freundeswort.“[9]

Die zweite und letzte Rede, die Hans Mayer zu Ehren von Erich Fried hielt, war die auf der Trauerfeier nach seinem Tod 1988: „Vom Dichter Erich Fried soll zuerst gesprochen werden, aus diesem Anlass und an dieser Stelle. Von ihm her ist nämlich alles gekommen, was wir erlebt haben mit ihm und durch ihn: vom unablässigen Strömen der Sprache, genauer noch: Strömen der zärtlich geliebten Wörter, denen Erich Fried ihr Geheimnis ablauschte, ihren Nebensinn, ihre Widersprüche.“ Er beendet seine Rede mit: „Erich Fried: Ehre seinem Andenken.“[10]
Am 22. November 1989, genau ein Jahr nach Erich Frieds Tod, wird die Internationale Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache durch den Gründungspräsidenten Hans Mayer ins Leben gerufen. (Siehe: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=6538.)

Der Band „Hans Mayer über Erich Fried“ endet mit einem weiteren Gedicht, das Erich Fried Mayer widmete: „Exkurs: Paul Celan für Hans Mayer“[11]; darin heißt es in den letzten Zeilen:

Du
hast das festgehalten
in deinen Worten
stark und behutsam
als hättest du so
ihn
festhalten können

Man wird es dir
und man wird dich
ihn und dich
nicht vergessen

Diese Zeilen sollten Hans Mayer und Paul Celan ehren. Hans Mayer hat in wenigen Tagen seinen 20. Todestag, Paul Celan hatte letztes Jahr seinen 100. Geburts- und 50. Todestag; Erich Fried am 6. Mai dieses Jahres seinen 100. Geburtstag. Es lohnt sich, der drei zu erinnern: am besten, indem man sie liest.

Claudia Wörmann-Adam

[1] Hans Mayer, Über Erich Fried, Hamburg 1991, S. 11
[2] Gerhard Lampe, „Ich will mich erinnern an alles was man vergißt“ Erich Fried Biographie und Werk, Köln 1989, S.11
[3] Wikipedia zu Erich Fried, aufgerufen am 4.5.2021
[4] H.M., über E.F., S. 10
[5] Ebenda, S. 10
[6] Ebenda, S. 12
[7] Ebenda, S. 29
[8] Ebenda, S. 31
[9] Ebenda, S. 32 ff
[10] Ebenda, S. 39 ff
[11] Ebenda, S. 56

Einheit von Geist und Tat – Leitmotiv der literarischen und öffentlichen Wirksamkeit

Zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann
„Seinen höchsten Augenblick hat er wohl am 21. Juni 1935 erlebt und natürlich in Paris. Damals hatte Heinrich Mann sein 64. Lebensjahr vollendet; …einem sicheren Tod durch die neuen deutschen Machthaber hatte er sich lebensklug immer wieder in entscheidenden Augenblicken, rechtzeitig entziehen können.“ Mit diesen Worten beginnt Hans Mayer seinen Vortrag »Die Größe Heinrich Manns« am 24. April 1988 in der Akademie der Künste in Berlin.[1]

1950 für die Büchergilde vom Autor mit dem Filmtitel autorisierte Ausgabe des Professor Unrat (Foto HB)

Als Heinrich Mann am 21. Juni 1935 beim internationalen Schriftsteller-Kongress auf der Tribüne des großen Saals der Mutualité in Paris erschien, „erheben sich die 5000 oder 6000 Anwesenden, ohne daß jemand ein Zeichen gegeben hätte. Sie erhoben sich schweigend zu Ehren des großen deutschen Exilierten Heinrich Mann. In ihm ehrten sie das Deutschland, das der Welt unverlierbare Werte der Kultur und Gesittung überantwortet hat.“[2] Ludwig Marcuse, so stellt Hans-Albert Walter fest, beschreibt Mann 1935 bereits als „das (noch ungekrönte) Haupt nach dem Zusammenbruch des Milleniums“.[3] Heinrich Mann war seit dem Oktober 1933 Ehrenpräsident des (wiederbegründeten) „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil“ (SDS) und Ehrenmitglied des britischen PEN-Clubs. Er vertrat die Angelegenheit der Exilierten vor dem Völkerbund und war Vorsitzender des Ausschusses zur Schaffung einer deutschen Volksfront. In seiner Rede vor dem Schriftstellerkongress stellte Mann fest: „Widerstand ist geboten. Man muß sich wappnen, nicht mit Geduld, sondern mit gefestigten Überzeugungen. … Zu verteidigen haben wir eine ruhmreiche Vergangenheit und was sie uns vererbt hat, die Freiheit zu denken und nach Erkenntnissen zu handeln.“[4] Mann formuliert hier erneut sein Leitmotiv, die „Einheit von Geist und Tat“. In seinem Erinnerungsband „Ein Zeitalter wird besichtigt“ fixiert Mann mit dem 1910 geschriebenen Essay „Geist und Tat“ den Beginn seiner Tätigkeit, die nicht nur auf Erkennen und Wiedergabe sondern auch auf Verändern gerichtet ist.[5] Dort schaut er auf Frankreich das (seit der Revolution) bereit ist, für den Geist zu streiten als die „Ratio militians selbst“. In Deutschland aber „Kein großes Volk: nur große Männer.“[6] Das Volk allerdings diskreditiert Mann nicht. Die „abtrünnigen Literaten …haben das Leben des Volkes nur als Symbol genommen für die eigenen hohen Erlebnisse.“ Mann fordert, dass sie „sich dem Volk verbünden gegen die Macht, daß sie die ganze Kraft des Wortes seinem Kampf schenken, der auch der Kampf des Geistes ist.“[7]

Das Grab Heinrich und Nelly Manns auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof (Foto HB)

In einem Vortrag an der Tübinger Universität zu den Brüdern Mann geht Hans Mayer auf das Leitmotiv Heinrich Manns ein, dass dieser, den Essay von 1910 fortschreibend, in seinem großen Beitrag zu Emile Zola 1915 formuliert hat. Es ist „die Vision einer demokratischen (und nicht mehr kapitalistischen) Gesellschaft. Die Verbindung von imperialistischem Krieg und imperialistischer Wirtschaft und wird klar denunziert.“[8]

Schon am Beginn des Krieges, dessen Ende vorausschauend, formuliert Heinrich Mann mit Blick auf das Ende der zweiten Französischen Republik aber dabei auch das Ende des deutschen Kaiserreichs meinend: „Demokratie aber ist hier ein Geschenk der Niederlage. Das Mehr an allgemeinem Glück, die Zunahme der menschlichen Würde, Ernst und Kraft, die wiederkehren, und eine Geistigkeit bereit zur Tat: Geschenke der Niederlage.“[9] Heinrich Mann spricht äußert zutreffend über Zola, dessen Leben, dessen Texte und dessen Handeln. Aber permanent liest man dabei auch Manns eigenes Denken und seine Handlungsintentionen. Sein Hoffen und Wünschen, den Sinn und Zweck seiner Arbeit und seines Handelns. In seinem Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Text formuliert Kantorowicz diesen Zola-Text auch als „Selbstbekenntnis Heinrich Manns“[10].

Die konsequente Fortführung dieser Überlegungen und Forderungen finden sich dann im Schreiben und Handeln Manns während seiner Exilzeit in Frankreich. Dorthin musste er nach der Machtübernahme durch die Nazifaschisten als einer ihrer prominentesten und nachhaltigsten Kritiker fliehen. Im Juni 1932 hatte er gemeinsam mit Albert Einstein, Käthe Kollwitz und anderen einen „Dringenden Appell“ unterzeichnet, der Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront und das Zusammengehen von SPD und KPD forderte.[11] Er endete mit dem Satz: „Sorgen wir dafür, daß nicht Trägheit der Natur und Feigheit des Herzens uns in die Barbarei versinken lassen!

Außerordentlich groß ist im französischen Exil die publizistische Tätigkeit Heinrich Manns. Nach einer Untersuchung von Karl Pawek in seiner Dissertation von 1972 sind es über 330 Aufsätze, Aufrufe und Vorworte. Hierbei sind die Sammelbände »Der Haß«, »Es kommt der Tag« und »Mut« noch nicht berücksichtigt.[12] Er ist in nahezu allen relevanten Zeitschriften des Exils vertreten. Eine besondere Tätigkeit Heinrich Manns in den Jahren 1935-1939 liegt in seiner Tätigkeit für die Volksfront. Er ist also nicht nur literarisch, sondern auch politisch tätig. Getreu seinem Leitmotiv der Einheit von Geist und Tat. Das Scheitern dieser Bemühungen wird in der Literatur unterschiedlich gesehen und bewertet. Dabei geht es nicht nur um den Blick westlicher Forscher*innen oder (ehemaliger) DDR-Forscher*innen, sondern auch um die jeweilige politische Perspektive in Bezug auf das Handeln der partei-politisch einzuschätzenden Personen.[13]

Viele Schriftsteller im Exil wandten sich der Verfassung sogenannter historischer Romane zu. Hans Mayer stellt in seinem Beitrag »Heinrich Manns „Henri Quatre“« fest: „Die meisten Emigrationsschriftsteller suchten sich Themen und Gestalten woran sie Gegenwartskonflikte zwischen Humanität und Antihumanität sozusagen auf dem „neutralen“ geschichtlichen Terrain abhandeln konnten. Die meisten Schriftsteller waren und blieben bürgerliche Autoren. Für sie wurde plötzlich, trotz der ironischen Warnung eines Friedrich Hebbel, der Schriftsteller zum „Auferstehungsengel der Geschichte“.[14] Über das Sujet des historischen Romans hat es umfangreiche, spannende Auseinandersetzungen gegeben. In diesem Kontext zu nennen sind insbesondere die Betrachtungen Lion Feuchtwangers und Georg Lukács auf den sich Hans Mayer – nicht das Buch, aber andere Analysen kennend – unausgesprochen bezieht.[15]

Heinrich Manns zweibändiges Romanwerk ist nach Mayers Auffassung ein echter historischer Roman, der nicht mit zwanghaftem Vergleichsblick auf die aktuelle Entwicklung geschrieben ist. Wie der berühmte »Untertan«, der das kaiserliche Deutschland betrifft, aber schon die Perspektive auf den kommenden Faschismus hat, zielt auch der »Henri Quatre« auf die Gegenwart. Quasi in Form eines Gegenentwurfs. Die Politik des französischen Königs zielt auf „Respekt vor dem Leben und Glück der Mitmenschen, (sowie) die Sorge für das Glück des Volkes.“

Der „Henri Quatre“ als Kopfstütze (Foto HB)

Explizit am Ende des Buches, in der „Moralité“ aus einer Wolke, die von einem Blitzstrahl erhellt wird, spricht Henri Quatre und mit ihm auch Heinrich Mann in die Gegenwart: „… ich bin nicht tot. Ich lebe, und doch nicht auf eine übernatürliche Weise. Ihr setzt mein Werk fort. Bewahrt euch all euren Mut, mitten im fürchterlichen Handgemenge, in dem so viele mächtige Feinde euch bedrohen. Es gibt immer Unterdrücker des Volkes, die habe ich schon zu meiner Zeit nicht geliebt; kaum, daß sie ihr Kleid gewechselt haben, keineswegs aber ihr Gesicht (ihre Grundhaltung, HM) … Fürchtet euch nicht vor den Messern, die man gegen euch zückt. Ich habe sie grundlos gefürchtet. Macht es besser als ich.“[16]

Sehr zu Recht hat Jeanine Meerapfel, die Präsidentin der Akademie der Künste, in ihrer Video-Ansprache zum 150. Geburtstag Heinrich Manns die Bedeutung des »Henri Quatre« herausgestellt. Zu danken ist ihr und anderen Einrichtungen, die das literarische Erbe Heinrich Manns hüten, dass alle Quellen nun digital zugänglich gemacht werden.[17] Den ersten Eindruck gibt eine virtuelle Ausstellung (siehe: https://www.heinrich-mann-digital.net/HMD/). Wen es mehr zum gedruckten Buch zieht, sei auf die Neuausgabe des »Professor Unrat« mit Bildern von Martin Stark erschienen in der Büchergilde Gutenberg verwiesen.

[1] Hans Mayer, Die Größe Heinrich Manns, in: Abend der Vernunft, Frankfurt am Main 1990, S. 179-195
[2] Alfred Kantorowicz, Heinrich Manns Vermächtnis, in Sonderheft Text und Kritik Heinrich Mann, München 1971, S. 15-33, hier S.30
[3] Zitiert nach Sonderheft Heinrich Mann, S. 123
[4] Heinrich Mann, Verteidigung der Kultur – Antifaschistische Streitschriften und Essays, Berlin und Weimar 21973, S. 126 und 128
[5] Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1973, S. 181
[6] Heinrich Mann, Geist und Tat, in: Essays Erster Band, herausgegeben von Alfred Kantorowicz, Berlin 1954, S. 7-14, hier S. 8 und 11
[7] A.a.O., S.13
[8] Hans Mayer, Französisch-deutsche Spannungen: Thomas und Heinrich Mann Tübinger Universitätsvortrag 1985, in: Bürgerliche Endzeit – Reden und Vorträge 1980 bis 2000, Frankfurt am Main 2000, S. 43-63, hier S. 48f
[9] Heinrich Mann, Zola, in: Heinrich Mann, Essays – Erster Band, Berlin 1954 herausgegeben von Alfred Kantorowicz, S. 197
[10] A.a.O., S. 487
[11] Heinrich Mann, Essays und Publizistik Band 5 1930 bis Februar 1933, herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Bielefeld 2009, S.456f. Der Aufruf erschien zuerst in der von Willi Eichler herausgegebenen Zeitschrift »Der Funke« und wurde dann auch als Plakat verbreitet. Es wurde für die Reichstagswahlen am 5. März 1933 erneut verbreitet. Das Plakat wurde der Anlass für den am 15. Februar erzwungenen Austritt Heinrich Manns aus der Akademie der Künste.
[12] Siehe Karl Pawek, Heinrich Manns Kampf gegen den Faschismus im französischen Exil 1933-1940, Hamburg 1972, S. 35 ff
[13] Differenzierte Darstellungen finden sich bei Pawek in der genannten Publikation und Gerd Bauer/ Peter Stein in ihrem Beitrag „Heinrich Mann im Exil. Standort und Kampf für die deutsche Volksfront“, in: Lutz Winkler (Hrsg.) Antifaschistische Literatur – Programme Autoren Werke Band 1Kronberg Taunus 1977, S. 53-141. Siehe auch Willi Jasper im Nachwort zu der Ausgabe Heinrich Manns Mut vom März 1991 bei Fischer, S. 305ff und Willi Jasper, Heinrich Mann und die Volksfrontdiskussion, Bern 1982
[14] Hans Mayer, Heinrich Manns „Henri Quatre“ in: ders. Deutsche Literatur und Weltliteratur, Berlin 1957, S. 682-689, hier, S. 682
[15] Lion Feuchtwanger, Das Haus der Desdemona, Rudolstadt 1969 und Georg Lukács, Der historische Roman, Berlin 1955
[16] Übertragung der französischen Texte ins Deutsche im Anhang der von Alfred Kantorowicz herausgegebenen Ausgabe des „Henri Quatre“, Berlin 1952
[17] Siehe https://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=62124

Karola Bloch und Hans Mayer: Eine spannungsreiche persönlich-politische Freundschaft

Zum 114. Geburtstag von Hans Mayer am 19. März 2021

Im Kreis der Freunde der Blochschen Philosophie hielt sich in Tübingen lange Jahre eine humorvoll-tiefgründige Anekdote, die sich im Weitererzählen immer wieder wandelte. Mal trug sie sich Mitte der sechziger Jahre zu, dann wieder ein Jahrzehnt später, mal waren die Beteiligten zu Fuß unterwegs, mal im Auto. Doch immer ging es um Hans Mayer und Walter Jens. Der Überlieferung nach waren beide auf dem Weg zur Wohnung von Ernst und Karola Bloch. Der Pfeife rauchende Philosoph mit den weißen Haaren hatte eingeladen. Da habe – so ging es von Mund zu Mund – kurz vor der Ankunft an der Wohnung Walter Jens zu Hans Mayer gesagt: „Karola ist heute auch da.“ Dieser nüchternen Botschaft setzte Hans Mayer erschrocken entgegen: „Da kommen wir ja wieder nicht zu Wort.“ Mayers vermeintlicher Schrecken gründete dabei explizit nicht in einem oberflächlichen Vorwurf, dass da eine Frau zu viel redete. Nein, es war eher die geringe Anzahl der Worte jener selbstbewussten Architektin, der es immer wieder gelang, kurzen Bemerkungen eine ungewöhnliche Schärfe beizugeben. Sie hatte es gelernt, sich im Beruf als Frau durchzusetzen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und konnte sehr direkt sein. Diese Schärfe war es, die die beiden geladenen Gäste so fürchteten.

Mit Hans Mayer verband Karola Bloch eine besondere, sich immer wieder anfeuernde und danach entspannende persönlich-politische Freundschaft. Beide waren sich in ihren Leipziger Zeiten begegnet, als es noch Hoffnungen auf ein anderes, besseres Deutschland gab. Sie schätzten sich und kritisierten den politischen Kurs sowie die mangelnde Sachkompetenz der SED-Führung. Als die Blochs 1961 nach dem Mauerbau von einem Aufenthalt in Bayreuth nicht mehr nach Leipzig[1] zurückkehrten, war Mayer entsetzt und in tiefem Maße enttäuscht. Die Freundschaft war plötzlich zerrissen. Mayer wollte seine Opposition vor allem innerhalb der DDR fortsetzen und solidarisierte sich mit dem von der SED hart bedrängten Bloch-Assistenten Jürgen Teller. In einem Brief schrieb Teller an die Blochs, wie der „Literaturfreund“ – gemeint war Hans Mayer – sich für ihn stark machte.[2] Doch schon zwei Jahre später gab Mayer auf und wechselte in die BRD. Die Mischung aus Enttäuschung und der erlittenen Einsicht, doch dem Blochschen Weg gefolgt zu sein, beeinträchtigten das Verhältnis zwischen ihm und Karola Bloch.

In den sechziger Jahren setzte sich die engagierte BRD-Kritikerin für Hans Mayer ein und verschaffte ihm Zugang zu weiteren Verlags- und Buchhandelsaktivitäten. Zu einem bitteren Bruch kam es nach dem Tode von Ernst Bloch am 4. August 1977. Karola Bloch entschied, dass bei der Trauerfeier Helmut Fahrenbach, Walter Jens, Oskar Negt, Rudi Dutschke und Peter Huchel sprechen sollten, nicht aber Hans Mayer. Mayer war tief verletzt und zog sich zurück. Das Verhältnis zwischen beiden kühlte stark ab. In einem heimlichen Brief an Jürgen Teller in Leipzig schrieb sie noch 1987: „Zum großen Verdruss von Hans Mayer, der so erzürnte, dass er den Verkehr mit mir und Jensens abbrach. Aber das habe ich überwunden. So klug H. M. ist, so unerfreulich ist er charakterlich.“[3]

Karola Bloch gratuliert Hans Mayer zur Verleihung des Ernst-Bloch-Preises 1988                           (Foto: Welf Schröter)

So spitz Karola Bloch in ihrer Wortwahl manchmal war, so sehr konnte sie mit großer Herzlichkeit auf jemand zugehen. Sie brach das Eis zu Hans Mayer, in dem sie ihm mit einer besonderen Geste entgegen kam. Sie hatte als Architektin ihren Beruf aufgegeben, als die Blochs 1961 nach Tübingen wechselten. Nur einmal noch nahm sie ihre berufliche Tätigkeit auf: Sie bot Hans Mayer, nach dessen Umzug in die Neckarstadt, an, ihm mit dem Blick einer dem Bauhaus verbundenen Architektin sein neues Zuhause in Tübingen einzurichten. Das Eis schmolz dahin. Als weitere Geste hatte sich Karola Bloch, dafür ausgesprochen, Hans Mayer den Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen zu verleihen. Zur Preisverleihung an ihn im Jahr 1988 reiste sie persönlich an. Der Schlusssatz seiner Dankesrede, mit der er den Ernst-Bloch-Preis entgegen nahm, lautete in Mayerscher Klarheit: „Karola, wir danken Dir für dein Leben mit Ernst Bloch.“[4]

Als schließlich Hans Mayer Karola Bloch zu ihrem 84. Geburtstag am 22. Januar 1989 persönlich in ihrer Wohnung gratulierte, war die Freundschaft endgültig wieder hergestellt. Das Gespräch zwischen beiden an diesem Tag verlief allerdings etwas einseitig. Mit Leidenschaft erzählte Hans Mayer von seinen Büchern, Aufsätzen, Reden und Auftritten. Karola Bloch hörte ihm gelassen und lächelnd zu. Sie kam gar nicht zu Wort. Sie wollte ihn aber auch gar nicht unterbrechen, denn sie genoss es, dass er ihr und Julie Gastl[5] sowie mehreren anderen Gäste so große Aufmerksamkeit schenkte.

Als Karola Bloch am 31. Juli 1994 starb griff Hans Mayer seinerseits zu einer außerordentlichen Geste. Nach seiner Abschied nehmenden Rede neben dem Sarg der Toten, in der er auch Kritik nicht aussparte, ging er einige Schritte vor den Sarg, verharrte mehrere Momente still und verbeugte sich tief. Eine große Würdigung. Auf keine andere Weise hätte er Karola Bloch jenen Respekt erweisen können, den er ihr trotz aller vergangener Turbulenzen bezeugte. Hans Mayer verneigte sich vor einer Frau, die ihm solidarisch eng verbunden geblieben war.

Welf Schröter, März 2021

[1] Welf Schröter: „Sonst ist es fein still auf dem schneebedeckten Brachland Pachulkistans“ – Widerstehen durch die Mauer hindurch. Der deutsch-deutsche Briefwechsel von Johanna & Jürgen Teller (Leipzig) mit Ernst & Karola Bloch (Tübingen). Zum 20. Todestag von Jürgen Teller. In: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Michael Walter, Claudia Wörmann-Adam (Hg.): „Widerstand ist nichts als Hoffnung“. Widerständigkeit für Freiheit, Menschenrechte, Humanität und Frieden. Mössingen 2021,
S. 301–317.
[2] Brief von Jürgen Teller aus dem Januar 1963. In: Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Briefe durch die Mauer. Briefwechsel (1954 – 1998) zwischen Ernst & Karola Bloch und Jürgen & Johanna Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2009, S. 64.
[3] Brief Karola Blochs an Jürgen und Johanna Teller vom 19.6.1987. In: Irene Scherer, Welf Schröter (Hg.): Etwas, das in die Phantasie greift.“ Briefe von Karola Bloch an Siegfried Unseld und Jürgen Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2015,
S. 312.
[4] Hans Mayer: Ernst Bloch in der Geschichte. Für Karola Bloch. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch. Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden. Reden und Schriften. Talheimer Verlag, Mössingen 1989, S. 155.
[5] Die Buchhändlerin Julie Gastl (1908-1999) gehörte zum Freundeskreis von Ernst und Karola Bloch in Tübingen. Sie ermöglichte das Verbleiben der Blochs in Tübingen 1961 maßgeblich.

Forderung der Enkelinnen Benjamins akzeptiert

In der vergangenen Woche erreicht uns durch Dr. Madeleine Claus die Nachricht, dass das Zentrum für zeitgenössische Kunst“ in Perpignan nicht mehr den Namen Walter Benjamins tragen wird. Die Mehrheit im Stadtrat hatte dies in einer Sitzung am 16. Februar beschlossen. Damit wurde der Forderung der Enkelinnen Mona und Kim Benjamin entsprochen. Sie hatten in einem Brief vom 7. September 2020 an den Bürgermeister Aliot gegen die Neueröffnung und weitere Nutzung des Zentrums unter dem Namen Walter Benjamin Einspruch erhoben. Geschickt nutze Aliot in der Rats-Sitzung Teile des Briefes, um den schwarzen Peter seinen Vorgängern in die Schuhe zu schieben. Was er nicht thematisierte, waren die eigentlichen Gründe für den Brief nämlich die Vereinnahmung des Namens Walter Benjamins für seine Strategie der „Entdiabolisierung“ des »Rassemblement Nationale«. Siehe hierzu den Beitrag „Gegen den Affront der extremen Rechten“.

Der Kulturdirektor, Jordi Vidal, der damals 2013 mit anderen den Namen Walter Benjamin durchgesetzt hatte, verschweigt in seiner Stellungnahme in der Zeitung die im Wahlprogramm Aliots 2020 angeführte Konzeption eines nach seinen Vorstellungen geplanten Museums im Zentrum für zeitgenössische Kunst“. (siehe hierzu den Beitrag »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein«)

Die Ausstellungen in diesem Museum hätten mit Sicherheit einer Konzeption rechten Denkens entsprochen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach der Amtszeit Aliots weitergewirkt.

Das Kulturzentrum noch mit dem Namen Walter Benjamin (Foto: Josiana Ferranti)
Das Kulturzentrum noch mit dem Namen Walter Benjamin                (Foto: Josiana Ferranti)


Nachfolgend der Beitrag aus L ´ Independent vom 8. März 2021:

Perpignan: Walter Benjamin ist nicht mehr der Name des Zentrums für zeitgenössische Kunst“

L ´ Independent, publiziert am 08/03/2021

Die Familie des deutschen Philosophen, der im September 1940 nahe der spanischen Grenze auf der Flucht vor dem Nazi-Regime starb, hat ihre Forderung durchsetzen können. Der RN-Bürgermeister wird den Namen Walter Benjamin entfernen.

Die Ankündigung erfolgte durch den RN-Bürgermeister Louis Aliot während der Gemeinderatssitzung am 16. Februar. Auf die Frage eines Oppositionspolitikers bestätigte er, dass der Name „Walter Benjamin verschwinden wird“. Bereits im Juli 2020, wenige Wochen nach seiner Wahl, nahmen eine Vereinigung von Intellektuellen und die Familie von Walter Benjamin Anstoß an einer möglichen Wiedereröffnung des 2013 eingeweihten Etablissements am Place du Pont-d’en-Vestit. Sie erklärten „die Dringlichkeit, den Namen Walter Benjamins den Händen der extremen Rechten und all derer zu entreißen, die die Geschichte umschreiben.

Diese Positionen wurden zunächst von Louis Aliot beiseite gewischt, bevor ein Brief der rechtmäßigen Eigentümer, der Enkelinnen des Philosophen, Mona und Kim Benjamin, im September, in dem sie erneut um die Rücknahme des Namens baten, die städtische Mehrheit schließlich davon überzeugte, dieser Forderung zuzustimmen.

Aber um dies zu rechtfertigen, beschuldigte Louis Aliot die ehemalige Gemeinde. In der Stadtratssitzung Auszüge aus diesem Brief aufgreifend, wollte er die Verantwortung für ein so symbolträchtiges Ereignis nicht übernehmen, indem er die Angriffe, denen er durch Mitglieder des Vereins und der Familie ausgesetzt war, nicht erwähnte. „Dass der Name von Walter Benjamin verschwindet, liegt seiner Meinung nach nicht am Rathaus, sondern an der Arroganz des früheren Rathauses, das diesen Namen vergeben hatte, ohne die Familie um Erlaubnis zu fragen“.

Dieses Argument wurde von den beiden Enkelinnen Walter Benjamins verspottet, die sagten, sie fänden „die Wendung der Ereignisse interessant, und insbesondere die Tatsache, dass Louis Aliot die Dinge umdreht, indem er beschließt, die ganze Affäre seinem Vorgänger in die Schuhe zu schieben.

Der Name Walter Benjamin war noch nie Konsens. Zu der Zeit, im Jahr 2013, wird bereits über den Namen debattiert und es ist der damalige Bürgermeister Jean-Marc Pujol, der zwischen seinem konservativen Flügel vermitteln wird, der den Namen von Pierre Restany, einem engagierten Kunstkritiker und gebürtigen Amélie-les-Bains, will, während der Kulturdirektor Jordi Vidal und der Abgeordnete Maurice Halimi für den Namen des deutschen Philosophen streiten. Zu dieser Zeit begann außerdem der Rechtsdienst der Gemeinde mit der Suche nach den rechtmäßigen Eigentümern.

„Inakzeptable Neubenennung“

Zehn Jahre später und nach dieser neuen Wendung verbergen diese beiden Persönlichkeiten ihre „Wut“ und „Traurigkeit“ vor dieser zukünftigen Neubenennung nicht. Sie bleiben kritisch gegenüber der Wahl der Familie, die in einer Zusammenstellung, „ohne den Ort besucht zu haben“, den Bürgern von Perpignan die Symbolik der Namensgebung für das Gebäude vorenthält. „Es ging darum, die Bedeutung des Philosophen im Kontext der Krisen zu zeigen, die wir gerade durchleben, und wo seine Reflexion über die Geschichte mit der Gegenwart in Resonanz steht“, erklärt Jordi Vidal. Es war das erste Mal in der Welt, dass ein Kunstzentrum seinen Namen trug. Wir sind es ihm schuldig, das 20. Jahrhundert ein wenig besser zu verstehen. Aber es stimmt, dass in Perpignan die Benennung eines Zentrums für zeitgenössische Kunst nach Walter Benjamin bedeutet, die Stadt aus der Last des Lokalismus zu befreien und sie für einmal dem Universellen zuzuwenden.

Was die Wahl der Familie betrifft, so hält Jordi Vidal sie, wie mehrere Intellektuelle aus Perpignan, für „unzulässig und widersprüchlich zum Denken Walter Benjamins und der Art und Weise, wie er gegen Barbarei und Ignoranz kämpfte. Walter Benjamin wird länger bleiben als Louis Aliot. Dass sich die Familie mit dieser Entscheidung, den Namen zu entfernen, schmeichelt, ist mehr als problematisch. Es ist das Zeichen eines Parisianismus, der auf dem Territorium operiert und der nicht versteht, dass nur weil Perpignan einen rechtsextremen Bürgermeister hat, das nicht bedeutet, dass die ganze Stadt rechtsextrem ist.

Das Kunstzentrum wurde in ein Geschäft transformiert: Das Rathaus spricht von einem Missverständnis

Hatte der erste Beigeordnete Charles Pons in den Spalten des L ´Independent noch das gemeinsame Interesse der Stadtverwaltung und eines italienischen Konfektionshauses erwähnt, „sich im Kunstzentrum Walter Benjamin anzusiedeln“, so scheint es nun, dass die Schlichtungen von Louis Aliot auf einen Erhalt des zeitgenössischen Kunstzentrums hinauslaufen, das allerdings keinen neuen Namen tragen soll. Das bestätigt auch der Kulturdezernent André Bonet, der auf Missverständnisse und Fehlinterpretationen in dieser Sache hinweist. „Wir werden versuchen, den Ort zum Strahlen zu bringen. Es bleibt ein Zentrum für zeitgenössische Kunst mit durchdachten Kooperationen mit verschiedenen Partnern, wobei man weiß, dass Brücken zum nur einen Steinwurf entfernten Museum Hyacinthe-Rigaud geschlagen werden können“. Was Bürgermeister Louis Aliot betrifft, so ist er vorsichtiger und sagt, dass „eine Diskussion im Mehrheitsrat, um die verschiedenen Möglichkeiten für die Zukunft des Ortes zu prüfen, bald stattfinden wird.“

 Julien Marion

Link zu der Ausgabe vom 9.3.2021, in der der Printbeitrag veröffentlicht ist.

»Das Werk lobt den Meister«

Zum 175. Geburtstag Franz Mehrings und seiner»Lessing-Legende«

Gründe für die Neuausgabe dieses Buches sind: „Die Ehrfurcht vor dem Andenken eines großen und zeitgemäßen Historikers; die Unzugänglichkeit gerade dieses Werkes infolge der Zeitumstände; die besondere Aktualität eben dieses Buches von der «Lessing-Legende» in eben diesem Augenblick.“[1] Mit diesen Worten begründet der Herausgeber Hans Mayer im Jahr 1946 die neue und revidierte Ausgabe des Buches von Franz Mehring im Mundus-Verlag Basel.

Die 1946 von Hans Mayer herausgegebene Lessing-Legende
Die 1946 von Hans Mayer herausgegebene Lessing-Legende (Foto: HB)

Der noch im Züricher Exil lebende Hans Mayer fährt fort: „Die Aktualität dieser Mehring-Schrift ergibt sich schon daraus, daß sie gleichsam den Schnittpunkt einer Reihe höchst gegenwärtiger Themen darstellt. Stärker denn je fragt sich die Welt nach den Ursachen einer immer wieder neu hervorbrechenden zynischen Rechtsfeindschaft und Eroberungsgier, deren Ahnentafel durch die Namen des Königs Fridericus, Bismarcks, Ludendorffs und Hitlers dargestellt zu sein scheint. Das Wesen dieses Fridericus-Staates mit den Augen und den unbestechlichen Kenntnissen eines Mehring zu betrachten, ist daher eine wesentliche Aufgabe unserer Zeit.“[2]

Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 als Sohn eines ehemaligen Offiziers und höheren Steuerbeamten und dessen Frau Henriette, geboren. Er studierte klassische Philologie in Leipzig und wurde 1882 an der Universität Leipzig über das Thema „Die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre“ promoviert. Er arbeitete als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und war zwischen den Jahren 1890 und 1918 der wichtigste marxistische Kulturkritiker und Historiker. 1891 trat Mehring der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde einer ihrer wichtigsten Publizisten und Theoretiker auf dem linken Flügel.

Nach einer sehr gelobten Serie in der »Neuen Zeit« erschien die Buchausgabe der »Lessing-Legende« in erweiterter Buchfassung 1893 in erster und 1906 in zweiter Auflage mit dem Untertitel „Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur“. Gewidmet war das Buch „seiner lieben Frau Eva Mehring der treuen Gefährtin in Arbeit und Kampf.“

Nach dem Tod Mehrings am 29. Januar 1919 in Berlin (nur wenige Tage nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs) waren dessen Hauptwerke über die »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«, die »Marx-Biographie« und auch die »Lessing-Legende« noch gut verfügbar. Einer neuen Auflage der »Lessing-Legende« in der Ende der zwanziger Jahre begonnen neuen Gesamtausgabe der Werke Mehrings in der Soziologischen Verlagsanstalt mit Einleitungen von August Thalheimer und begleitet von Eduard Fuchs auf der Basis neuer marxistischer Forschungen, stellten sich die alten sozialdemokratischen Herausgeber entgegen. Nach der Zeit des Nazifaschismus und dem zweiten Weltkrieg herrschte somit Tabula rasa. Für Mayer also ein wesentlicher weiterer Grund für die Herausgabe der »Lessing-Legende«. Entschlackt allerdings von allen Auseinandersetzungen die Mehring in seiner 1. und 2. Buchausgabe mit zeitgenössischen Historikern und Literaturhistorikern geführt hatte. [3]

In wenigen kurzen Charakterisierungen bringt Mayer die wesentlichen Aspekte der »Lessing-Legende« in der Einleitung auf den Punkt. „Wie alle Legenden, zerfällt sie in kleinere Geschichtsfälschungen, aus denen dann der Mythos, der später «geglaubte» Gemeinplatz wird. Die eigentliche Lessinglegende hat drei besondere Legendenelemente – und Mehring legt sie meisterhaft auseinander. Da ist einmal die «Fredericus-Legende». … Mit Vorliebe arbeitet sie mit dem Wort vom «aufgeklärten Despotismus» des Preußenkönigs, wonach dieser Monarch seine von den Zeitgenossen als fast unerträglich empfundene Tyrannei und Willkür nicht zum Zwecke der eigenen Macht- und Herrschaftsziele ausgeübt hätte, sondern aus königlich-verkleideter Freigeisterei und Humanität. Friedrich wird … zu einer Art von gekröntem Humanisten und Freigeist, zu einer Art Lessing aus dem Hause Hohenzollern, der …insgeheim die bürgerlichen Emanzipations- und Freiheitsziele vertreten habe.
Auf der Gegenseite entspricht dem die Kennzeichnung Lessings als eines anerkannten und erfolgreichen Vertreters der deutschen bürgerlichen Ideale und Interessen, denen gerade jene Schichten, deren Ziele hier ausgesprochen wurden, von Anfang an willig und begeistert Gefolgschaft geleistet hätten.
Und aus beiden entsteht nun die dritte, die eigentliche Lessing-Legende: Friedrich und Lessing, der aufgeklärte bürgerliche Monarch und der patriotisch-preußische bürgerliche Schriftsteller hätten einander gesucht und gefunden. Der Preußenstaat Friedrichs II. als die Tat zu eines Lessings Gedanken! Aus einem sächsischen Untertan sei Lessing zum Verherrlicher dieses preußischen Staates und seines Königs geworden. Der Staat von Sanssouci als erste Form eines bürgerlich-emanzipierten Staates in Deutschland – und Lessing als sein Prophet!“[4]

Ein Band zur Literatur aus der Gesamtausgabe der 20ger Jahre (Foto HB)
Ein Band zur Literatur aus der Gesamtausgabe der 20ger Jahre

Ist einerseits also der „preußischen Despotismus“ in der Linie von König Fridericus bis Hitler an Mehrings Werk zu studieren, dient es andererseits in Bezug auf die Gegenwart zur Analyse des „unerklärlichen geistigen Absturz des deutschen bürgerlichen Humanismus, der bei Lessing sich wiederzuerkennen behauptete, auf den Geist von Weimar sich zu berufen pflegte – um in Weimars Nähe, in Buchenwald, zu landen. Was aber taugt eine Geschichtswissenschaft, die nicht diesen Verrat der bürgerlichen Schichten an Lessing und am gesamten großen Kulturerbe nicht zu erklären vermöchte!“[5]

Über Mehrings Analyse hinaus bleibt für Mayer dann noch die Frage nach der Funktion und dem Sinn dieser Legendenbildung. Wenn quasi durch Generationen von Gelehrten an dieser Legende gestrickt wird müsse damit eine „bestimmte geschichtlich-historische Aufgabenstellung“ verbunden sein. Es sind die Wurzeln der deutschen «Misere», die Friedrich Engels darin konstatiert, dass „die wirtschaftlich- politische Zusammenarbeit zwischen der deutschen Bourgeoisie des Kaiserreichs und dessen militärisch-feudalen Trägern“ der Grund des Übels ist; verbunden mit dem Machtverzicht des Bürgertums auf die politische Leitung des Staates.

In einem Brief vom 14. Juli 1893 aus London lobt Friedrich Engels das Werk Mehrings nachdrücklich: „Im übrigen kann ich von dem Buch nur wiederholen, was ich schon von den Artikeln, als sie in der „N[euen] Z[eit]“ erschienen, wiederholt gesagt habe: Es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert, ja ich kann wohl sagen, die einzig gute, die in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge ent­wickelnde. Man bedauert nur, daß Sie nicht auch gleich die ganze Weiter­entwicklung bis auf Bismarck haben mit hineinnehmen können, und hofft unwillkürlich, daß Sie dies ein andermal tun und das Gesamtbild im Zu­sammenhang darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm.“[6]

Die »Lessing-Legende« als eine der wichtigsten Schriften Mehrings findet – außer als Literaturhinweis – in dem einschlägigen Wikipedia-Eintrag keine Beachtung. Ein längerer Abschnitt widmet sich aber dem Verhältnis Mehrings zum Judentum. Die Mehrheit der angeführten Autoren, wie Micha Brumlik, Robert S. Wistrich und Shlomo Na’aman kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Waagschalen trotz mehrfacher einzelner Zitate, die auch Götz Aly anführt, nicht als anitisemitische Haltung Mehrings interpretiert werden können. Im Jahr der Feier von 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland könnte es interessant sein, diesen Sachverhalt auch in Bezug auf Mehrings Position zu Lessing und seinem »Nathan« näher zu betrachten. Mehrings Beitrag dazu endet mit einem Wort Herders zu Lessing: Ich sage Ihnen kein Wort Lob über das Stück; das Werk lobt den Meister.“

[1] Franz Mehring „Die Lessing Legende“ – neu und revidiert herausgegeben von Hans Mayer, Basel 1946, S. 13
[2] A.a.O., S. 17
[3] In der 1975 und dann in den Folgejahren in der DDR herausgegebenen Ausgabe der »Lessing-Legende« als Band 9 der Gesammelten Schriften findet sich auch ein Hinweis auf die Baseler Buchausgabe Hans Mayers in gekürzter Fassung.
[4] A.a.O., S. 15f
[5] A.a.O., S. 18f
[6] Der Brief, der sich auch mit weiteren inhaltlichen Fragen beschäftigt, findet sich in MEW Band 39, Dietz-Verlag Berlin, 1968 S. 96-101

Die Kunst, einen Roman zu schreiben

Zum 70. Todestag von André Gide

Mit seinem Drang zu einer bedingungslosen Individualität und seinem Einzelgängertum war André Gide (*22. November 1869 in Paris 19. Februar 1951 in Paris) ein Außenseiter und passte somit als literarisches Beispiel neben Oscar Wilde vorzüglich in Hans Mayers gleichnamiges Buch Die Außenseiter (1975). Zuerst vergleicht Mayer Gides Falschmünzer (1925) mit Das Bildnis von Dorian Gray (1890), die einzigen Romane der beiden Schriftsteller. Beide Romane enthalten einen „geheimen Satanismus … der zwar als Kunstmittel eingesetzt wurde, ohne doch in solcher ästhetischen Funktion ganz aufzugehen. “ (Außenseiter, S. 267) Im Folgenden fällt die Präzision auf, mit der Mayer die Figurenkonstellation in den Falschmünzern präsentiert und zeigt damit eine Literaturkritik, die sich auf eine sehr genaue Lektüre des Textes stützt. Es ist eine männlich geprägte junge Welt: „Alle Erwachsenen haben allein die Funktion zu stören.“ (Außenseiter, S. 270). Wie die Älteren so stören hier die Frauen. Sie werden gehaßt oder verachtet. (Außenseiter, S. 270)

DIe Kirche von Cuverville
Die Kirche von Cuverville

Les Faux monnayeurs (Die Falschmünzer, 1928) erscheint 1925. Wie Gide dies selbst betonte, sein erster Roman. In ihm setzt sich der Romancier Édouard daran, einen Roman zu verfassen. Es geht um die Epik des Romans, die verschiedenen Stationen seines Entstehens, denen eine Aufmerksamkeit gewidmet wird, die das eigentliche Werk übersteigt. Die Ereignisse und die Figuren treten dabei in den Hintergrund, denn Edouard versucht für sich und den Roman die Realitäten zu ordnen, was er in seinem Journal d’Édouard, aus dem immer wieder Abschnitte in den Falschmünzern erscheinen, festhält: „Für mich gibt es nur eine poetische (Und dieses Wort gebe ich in seiner umfassenden Bedeutung hier wieder) Existenz, um schon mal nur mit mir anzufangen. Es scheint mir manchmal, dass ich nicht wirklich existiere, aber ich stelle mir einfach nur vor, dass ich bin.“ (Les Faux monnayeurs, 1925, S. 73, übers. v. H.W) Wie ihn als Hauptperson gibt es im Roman weitere Personen wie Bernard Profitendieu oder Lucien Bercail, die sich auch über den Wert ästhetischer Betrachtungen aus ihrem Milieu lösen möchten. Später notiert Édouard in seinem Tagebuch: „Ich beginne das zu begreifen, was ich das eigentliche Thema‘ meines Buches nenne, das wird, ganz ohne Zweifel, die Rivalität zwischen dem realen Leben und der Vorstellung sein, die wir uns von ihr machen.“ (Les Faux monnayeurs, 1925, S. 201, übers. v. H.W) In einem gewissen Sinne dokumentieren die Falschmünzer Gides eigene Überlegungen zur Gattung des Romans oder überhaupt einer auch zu einer Episode in diesem Roman, in der es wirklich um Falschgeld geht.

Das Grab von André Gide und seiner Frau Madeleine auf  dem Friedhof von Cuverville

Für Mayer gehören die Falschmünzer zum Genre des homosexuellen Romans mit seinem „parasitären Kosmos“ (S, 271). Der Gegensatz zwischen Edouard und Passavant steht im Zentrum ihres Kampfes um den jungen Olivier. Edouard obsiegt und gewinnt Olivier: „eine Lustspielwelt ohne Frauen.“ (S. 272) Es gibt auch Mayers Blick auf die Biographie Gides und er erinnert an den geliebten Marc Allégret, der Olivier in seinem Leben war., Der Beleg ist Gides Tagebucheintrag vom 8. Dezember 1917, in dem er seiner immensen Enttäuschung Ausdruck verlieh, dass M. bei [Jean] C.[octeau] gewesen sei.

Es ist nicht nur die besondere Gattung des Romans, die Mayer skizziert, sondern der Einblick, den er uns in die so präzise Konstruktion und Entstehung des modernen Romans vermittelt. Sie sollte uns dazu anregen, Gide wieder zu lesen.

Gide stammte aus einer protestantischen bürgerlichen Familie. Sein Vater stirbt 1880. Gide wächst fast ausschließlich unter Frauen auf. 1891 erschienen seine Erstlingswerke Les Cahiers d’André Walter (Die Aufzeichnungen und Gedichte des André Walter, 1969) und Voyage d’Urien (Die Reise Urians, 1991). Ab 1891 ist er zu Gast bei den Dienstagsabenden Stéphane Mallarmés im Kreis der Symbolisten, deren Einfluss in Gides Gesamtwerk zu erkennen ist. 1893-1895 reist er nach Nordafrika, entdeckt dort für sich eine Gefühlswelt ohne Grenzen und hat, wie man heute sagt, sein Coming-out, das er in L’immoraliste, 1902 (Der Immoralist, 1905) bestätigt, wenn auch auf eine eher diskrete Weise, bevor er wieder ausführlicher in Corydon, 1924, (dt. 1932) explizit darauf zurückkommt. 1895 heiratet er Madeleine Rondeaux (1867–1938) seine Cousine, mit der er eine nach außen erscheinende förmlich-bürgerliche Ehe führt. Im gleichen Jahr erscheint Paludes. Zwei Jahre später Nourritures terrrestres und Les nouvelles nourritures, (Uns nährt die Erde, 1930, Die Früchte der Erde, 1935, Neue Früchte der Erde, 1999). Es wird das Kultbuch einer ganzen Generation: alle Sinnesempfindungen werden in einer exaltierten Weise dargestellt: einem jungen Schüler, Nathanaël, wird die Befreiung von allem gelehrt: „Nathanël, ich lehre Dich die Inbrunst.“ (S. 21)

Mit Jacques Copeau, Jacques Rivière und Jean Schlumberger gründet Gide 1908 die Nouvelle revue française. Mit La porte étroite, 1909 (Die enge Pforte, 1909) und Isabelle, 1911, beginnt sein Durchbruch. 1914 veröffentlicht Gide die Sotie (Narrenspiel) Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatican, 1922) mit der berühmten Passage des Acte gratuit, als der Protagonist Lafcadio seinen Mitreisenden Amédé Fleurissoire auf einer Brücke aus dem Zug wirft. La Symphonie pastorale, 1919 (Die Pastoralsymphonie, 1925) zählt zu seinen besonderen Erfolgen, gehört der Band doch zu den Erzählungen, die sein Werk besonders gut charakterisieren.

Dem Studium der Menschen galt immer sein besonderes Interesse, insoweit folgt er seinem Vorbild Montaigne und dessen Individualismus: Essais sur Montaigne, 1929 und Les pages immortelles de Montaigne. Choisies et expliquées par André Gide, 1946, (Denken mit Michel de Montaigne: Eine Auswahl aus den Essais, vorgestellt von Andre Gide, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von H. Helbling, 2005) Das Thema »individueller Freiheit« wird sein ganzes weiteres Werk bestimmen. Eine Autobiographie Si le grain ne meurt (1924) wird 1930 unter dem Titel Stirb und werde übersetzt. Ab 1889 führte Gide sein berühmtes lebenslanges Tagebuch: Journal intime, 1952, (Intimes Tagebuch, 1952), mit dem er das Entstehen seiner Werke begleitet und immer wieder auf sein Hauptthema zurückkommt, der Mensch habe sich so zu akzeptieren, wie er sei: Schon 1897 schreibt in er den Nouvelles nourritures terrestres: „Ich mag nichts, was den Menschen herabsetzt; nichts, was dazu neigt, ihn weniger weise, weniger selbstbewusst oder weniger reaktionsschnell zu machen. Denn ich akzeptiere nicht, dass Weisheit immer von Langsamkeit und Misstrauen begleitet wird. Das ist auch der Grund, warum ich glaube, dass in einem Kind oft mehr Weisheit steckt, als in einem alten Mann.“ (Les nouvelles nourritures, in: Les nourritures terrestres, 1917-1936, S. 230, übers. v. H.W.)

Gide wollte sich und seine Leser von allen Zwängen, von jedem Anspruch moralischer Art befreien. Keine überkommene Konvention sollte gelten. Ihm ging es um das authentische Ich. Seine Kritik ist fundamental, für ihn zählt in erster Linie das Individuum. Gide vereinigt in seinem Werk alle Stilgattungen: Dichtung, Roman, Erzählungen, Theaterstücke, Essays, Soties und Zeitungsartikel. Seine vielen Reisen machten ihn international bekannt. 1947 erhält der den Nobel-Preis für Literatur.

In Was ist Literatur? (1947) zitiert Sartre Die Früchte der Erde als ein Beispiel für die Geisteswerke, die in sich das Bild des Lesers tragen, für den sie bestimmt seien. In diesem Sinne könne er, so Sartre, nach der Lektüre ein Porträt Nathanëls anfertigen und der Entfremdung, von der sich lösen solle. Die einzige Gefahr, in die er gerate, sei die, sich von seinem Milieu nicht lösen zu können.

Auch wenn Gide nach eigenem Ermessen nur einen Roman verfasst hat, der zudem auch noch das mögliche Scheitern dieser Gattung berichtet, so gilt sein Gesamtwerk doch den Überlegungen, wie die Mittel der Ästhetik und der Epik die Kunst bestimmen, einen Roman zu schreiben Damit verbunden ist die Suche nach dem Individuum, seiner Autonomie, die als Thema das Gesamtwerk Gides kennzeichnet, der stets nach den Werten forscht, die das Leben ausmachen und bestimmen.

Nicht unbegründet stellt Hans Mayer in einem Beitrag für »Die Zeit« vom 28. März 1980 deshalb heraus, dass es durchaus sinnvoll sei, das Tagebuch („Journal“) des Autobiographen Gide in die berühmte Liste der Hundert Bücher aufzunehmen.

Fotos: © Heinrich Bleicher

Heinrich Heines ‚Poetik des Trommelns‘

Mit großer Freude veröffentlichen wir zum 165. Todestag Heinrich Heines am
17. Februar einen Beitrag von Prof. em. Leo Kreutzer. Er war Assistent und Nachfolger von Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für neuere und neueste deutsche Literatur der Universität Hannover.

Wie aus Heinrich Heine ‚mein afrikanischer Heine‘ wurde und ich ihn nicht länger mit Hans Mayer als Schriftsteller ‚ganz ohne Tradition‘ las

Von Heinrich Heine habe ich in meinem Leseleben zwei Mal (fast) alles gelesen. Aus einer ersten Lektüre entstand 1970 Heine und der Kommunismus.[1] Mit dieser Studie habe ich seinerzeit in aller Kürze dargelegt, dass Heine, wenn er am Ende seines Lebens von ‚Kommunismus‘ spricht und bekundet, dass er ihn fürchte, das kunst- und wissenschaftsfeindliche Programm des Neo-Babouvismus meine, einer ‚frühsozialistischen‘ Bewegung, die in den 1830er und 1840er Jahren an die ‚Verschwörung der Gleichen‘ des nach dem Sturz Robespierres 1797 hingerichteten Gracchus Babeuf anknüpfte. Von ihren Bestrebungen und Zielen hatte Heine Kenntnis erlangt, als er, nach seiner Übersiedelung nach Paris, als Korrespondent der ‚Augsburger Allgemeinen Zeitung‘ auch die Pariser Arbeiter-Vorstädte erkundete.

Heines Grab auf dem Friedhof Montmartre in Paris (Foto: HB)

Seit den frühen 1980er Jahren regelmäßig Gast an Universitäten im subsaharischen Afrika, begann ich mich im Zuge einer Beschäftigung mit afrikanischen Literaturen mit einer gesellschaftlichen und kulturellen Oralität vertraut zu machen. Als ich dann für ein Buch zu seinem 200. Geburtstag noch einmal (fast) alles von Heine las, blieb ich zu meinem nicht geringen Erstaunen auf Schritt und Tritt an Spuren einer erlebten und erinnerten ‚volkspoetischen‘ Oralität hängen, über die ich bei meiner ersten Lektüre hinweggelesen hatte. Das erklärte sich mir dadurch, dass Hans Mayer in einem für mich seinerzeit kanonischen Essay eine „Ausnahmestellung“ Heines damit begründet hatte, dieser sei „als Schriftsteller, vor allem am Beginn seiner Laufbahn, ganz ohne Tradition“ gewesen; die ‚Geister der Vergangenheit‘ einer ‚Volkspoesie‘ gehörten für Hans Mayer nicht zur Tradition einer bürgerlichen Literatur in Deutschland von Lessing bis Thomas Mann.[2]

Aber nun diese durch Erfahrungen mit afrikanischen Gegebenheiten und Literaturen veränderte Wahrnehmung: Von Beginn an und dann lebenslang stellt Heine sich gern als jemand dar, der sich in seiner Jugend in verschiedenen Milieus einer vielgestaltigen mündlichen Überlieferung herumgetrieben und es verstanden habe, ihren Hüterinnen ‚die Zunge zu lösen‘: älteren Frauen, Ammen, die ihm Volksmärchen erzählt, und jungen Mädchen, die für ihn Volkslieder gesungen hätten. Märchen und Lieder „aus alten Zeiten“ kommen ihm seither „nicht aus dem Sinn“.

Als ich Heine beim Wiederlesen im Lichte afrikanischer Gegebenheiten und Literaturen und damit gleichsam ‚doppeltblickend‘ las, fiel mir aber noch etwas anderes auf. Einen ähnlichen Zauber wie eine volkspoetisch-mündliche Überlieferung hat nach Heines eigenem Bekunden auf den Düsseldorfer Pennäler das Trommeln des den napoleonischen Truppen voranschreitenden ‚Tambourmajors‘ ausgeübt. Wenn er im Buch Le Grand schildert, wie der Düsseldorfer Hofgarten für ihn zur ‚Schule‘ des Tambourmajors Le Grand wurde, dann inszeniert Heine sich als dessen Schüler gerade so wie bei seinen Erinnerungen an seine ästhetische Erziehung durch volkspoetische Erzählungen und Lieder. „Ich spreche“, so Heine 1826 in seinem ‚Reisebild‘ Ideen. Das Buch Le Grand, „vom Hofgarten zu Düsseldorf, wo ich oft auf dem Rasen lag, und andächtig zuhörte, wenn mir Monsieur Le Grand von den Kriegstaten des großen Kaisers erzählte, und dabei die Märsche schlug, die während jener Taten getrommelt worden, so daß ich alles lebendig sah und hörte.“[3]

In der Art und Weise, wie Heine sich als Zuhörer des Tambourmajors Le Grand porträtiert, verbinden sich seine Wertschätzung der deutschen Volkspoesie und sein durch Errungenschaften der Französischen Revolution geprägtes Verständnis von politischer Agitation. Vereinbar, sowohl politisch als auch ‚interkulturell‘, sind sie für ihn, weil er an einer deutschen Volkspoesie nicht aus ‚Deutschtümelei‘ festhält und ihr, anders als ein von ihm in Vielem geteiltes ‚progressives Denken‘ seiner Zeit, ein subversives Potential zuschreibt. Aber ihre – wie der sagenumwobene Kaiser Rotbart im Kyffhäuser – schlafende Widersetzlichkeit entspricht nicht mehr einem Politik-Verständnis, wie es für Heine seit der Französischen Revolution unhintergehbar ist. So muss die volkspoetische Überlieferung im Sinne einer neuen Vorstellung von politisch wirksamer Poesie modernisiert werden. Heine bewerkstelligt das, indem er volkspoetische Überlieferung und politische Agitation durch eine Poetik des Trommelns miteinander verbindet.

 Was einen ‚guten Tambour‘ ausmache und dass er ein solcher sei, das hat Heine mit seinem Gedicht Doktrin[4] demonstriert. Bei dem 3strophigen ‚Zeitgedicht‘ aus dem Jahre 1844 handelt es sich um ein poetisches Manifest der Modernisierung der volkspoetischen Tradition durch ein zeitgenössisches Denken. Zur Schule eines furchtlosen Trommelschlagens im Sinne einer ‚Poetik des Trommelns‘ erklärt es die Bücher und die Wissenschaft, und dabei hebt es ausdrücklich die jüngste philosophische Schule hervor. Dass das im Volksliedton geschieht, wird im letzten ‚Caput‘ des etwa gleichzeitig entstandenen Versepos Atta Troll so begründet: Er, Heinrich Heine, lasse „moderne Triller gaukeln durch den alten Grundton“.[5]

Leo Kreutzer

Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.

Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab´ sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.

[1]     Leo Kreutzer, Heinrich Heine und der Kommunismus, Göttingen 1970
[2]     Hans Mayer: Die Ausnahme Heinrich Heine, in ders.: Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland. Pfullingen 1959. S. 273-296, das Zitat S. 275 („ganz ohne Tradition“ i. O. kursiv); vgl.  Leo Kreutzer: Träumen Tanzen Trommeln. Heinrich Heines Zukunft. Frankfurt a.M. 1997
[3]  Heinrich Heine: Ideen. Das Buch Le Grand, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 3: Schriften 1822-1831. München Wien 1976, S. 245-308, das Zitat S. 274. Aber die Trommel des napoleonischen Tambourmajors ’spricht‘ nicht nur, dessen Trommeln vermittelt seinem jugendlichen Zuhörer nicht weniger als den ‚Geist‘ der (französischen) Sprache, insbesondere solcher Wörter wie ‚liberté‘ und ‚égalité‘: „Man muß den Geist der Sprache kennen, und diesen lernt man am besten durch Trommeln.“ (ebd. S. 270f.)
[4] Heinrich Heine: Zeitgedichte, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 7: Schriften 1837-1844. München Wien 1976, S.412
[5] Heinrich Heine: AttaTroll, in ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 7: Schriften 1837-1844. München Wien 1976, S. 570

Buchrezensionen und die Literatur in WDR3

Brief an Tom Buhrow, Intendant des WDR.

Sehr geehrter Herr Buhrow,

in schon etwas zurückliegenden Zeiten gehörte ich – als Bereichsleiter Kunst und Kultur der ver.di sowie als Bundesgeschäftsführer des Schriftstellerverbandes (VS) – zu einem Kreis, mit dem Sie in kulturpolitischen Fragen in kontinuierlichen Kontakt standen. Gern haben wir kulturpolitische Anliegen und Initiativen des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks unterstützt und auf Wunsch auch eine Empfehlung oder einen Ratschlag gegeben, der dem Kulturauftrag des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks förderlich schien.

Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Mit Betroffenheit und Unverständnis muss ich die deklarierten Entscheidungen zu den Streichungen im Kulturprogramm, über die die Presse heute berichtete, zur Kenntnis nehmen. Wie kann man entgegen dem eigenen Verständnis und Auftrag an den Ästen sägen, die wesentlich zur Existenzberechtigung der Öffentlich-Rechtlichen beitragen?

Auf der WDR-Homepage heißt es:
„Wer nach neuen Büchern Ausschau hält, braucht Orientierung im Literatur-Dschungel – wir geben sie! In unseren WDR 3 Büchersendungen nehmen wir Bestseller und Geheimtipps unter die Lupe und empfehlen, welche Neuerscheinung Leser verdient.
Literatur nimmt bei WDR 3 einen großen Platz ein – von montags bis samstags in der Buchrezension von WDR 3 Mosaik. Wir legen Ihnen lesenswerte neue Bücher ans Herz und entdecken gemeinsam Geheimtipps und Klassiker der Weltliteratur neu.“

Der Buchmarkt ist tatsächlich durch eine große Zahl von Neuerscheinungen zu einem „Dschungel“ geworden, in dem selbst versierte Leserinnen und Leser den Überblick verlieren können. Das Leseverhalten ist in der Krise angewachsen. Auch insoweit ist eine Auswahl und Orientierung und Orientierung durch die Medien eine herausragende Aufgabe. Dieser professionelle kulturpolitische Auftrag ist im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt. Eine feste Fixierung im Programm für die Orientierung der Hörer und Zuschauerinnen ist trotz aller technischen Suchmöglichkeiten notwendig.

Neben dem Wegfall der Buchrezensionen steht wohl auch die Streichung des „Gedichts“ auf dem Programm. Als ehemaliger Studioleiter des ARD Studios in Washington. D.C. haben Sie doch sicher den phänomenalen Auftritt der jungen Dichterin Amanda Gorman erlebt, die mit ihrem Gedicht „The hill we climb“ größere Aufmerksamkeit und Zuspruch gefunden hat, als die beiden weltbekannten Sängerinnen Lady Gaga und Jenifer Lopez, deren Beiträge nicht unterschätzt werden sollen. Das könnte doch etwas nachdenklich stimmen.

Natürlich steht am Ende aller Debatten immer die Frage der Finanzierung. Selbstverständlich ist auch mir das unsägliche Debakel bezüglich der Nicht-Erhöhung durch die fatalen Entscheidungen in Sachsen-Anhalt bekannt. Allerdings sollte man bei allen notwendigen Sparmaßnahmen nicht die Äste absägen, die die eigentliche Existenzberechtigung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks ausmachen.

Es heißt, dass der damalige Premierminister Winston Churchill, während der Luftkrieg über Großbritannien tobte, aufgefordert wurde, die Kulturausgaben zu Gunsten des Verteidigungshaushalts zu kürzen. Er antwortete trocken: »Und für was kämpfen wir dann?« Etwas anders formuliert: Wofür eigentlich steht der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk.

Ich hoffe, die oben angesprochenen Kultureinschnitte im WDR sind noch keine endgültig beschlossene Sache. Werden Sie diese noch einmal überdenken und zurücknehmen?

Die heutigen Ausführungen von Herrn Kremin unter dem Titel „Mehr Vielfalt über die Literatur“ auf der WDR-Homepage lassen leider mehr Fragen offen, als fundierte Antworten oder reflektierte Neukonzeptionen zu geben.

Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen
Ihr
Heinrich Bleicher-Nagelsmann

Da es sich um eine öffentliche Angelegenheit handelt, erlaube ich mir, den Brief an Sie auf der Homepage der Hans-Mayer-Gesellschaft zu veröffentlichen. Sollten Sie mir eine Antwort geben, werde ich diese mit Ihrem Einverständnis dort ebenfalls platzieren.

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Antwort im Auftrag von Tom Buhrow

Der Programmbereichsleiter von WDR3, Matthias Kremin, hat am Dienstag dem
2. Februar 2021 im Auftrag des Intendanten eine Antwort auf den oben stehenden Brief gegeben. Ich gebe sie unkommentiert und ungekürzt wieder:

„Sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,
vielen Dank für Ihre mail vom 26. Januar an Tom Buhrow, der mich gebeten hat, Ihnen zu antworten.
Ich teile Ihre Ansicht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen besonders schützenswerten Kulturauftrag hat und – bei allem Ärger um die Berichterstattung – es ist auch gut, wenn sich die Freunde dieses Kulturauftrags zu Wort melden, wenn es Grund für einen Alarm gibt.
Nun ist es so, dass wir zwar Änderungen in der Morgensendung „Mosaik“ planen, aber von Streichung „der Literatur“ keine Rede sein kann.
Die neu formierte Redaktion der Sendung hat sich Gedanken über ihre Sendung gemacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass Literatur-Rezensionen nicht immer gleich gebaut sein müssen, dass sie in der Form variieren sollten und auch nicht immer am gleichen Platz ausgestrahlt werden müssen, denn manchmal eignet sich ein Thema nicht für eine Morgenstrecke oder ist besser in einer Kultursendung am Nachmittag aufgehoben.

Diesen Vorgang würde ich nicht alarmierend nennen. Es ist die Aufgabe einer Redaktion, sich Gedanken über das eigenen Programm zu machen. Diese Gestaltungsfreiheit einer Redaktion ist ein hohes Gut im WDR, das durch das Redakteurstatut geschützt ist. Klar formuliert: Wenn eine Redaktion beschließt, dass sie mehr oder weniger Rezensionen produzieren möchte – oder andere – oder diese auf einem anderen Sendeplatz ausstrahlen möchte, dann ist das kein Grund für eine Petition. Überflüssig zu erwähnen, dass die Redaktion alle weiteren Formatänderungen mit den Mitarbeitern besprochen hat und auch meine Zustimmung eingeholt hat.

Tatsächlich schlecht gelaufen ist in diesem Fall die Kommunikation mit den freien Mitarbeitern der Literatur-Redaktion. Den Rezensent*innen wurde der Eindruck vermittelt, die Redaktion „Mosaik“ plane ab September alle Rezensionen abzuschaffen.
Ich bin mit den Kolleg*innen im Austausch und konnte in einem Schreiben das Missverständnis z.T. aufklären. Auf Seiten des WDR gibt es jedoch eine deutliche Irritation über die initiierte Petition, die den wahren Sachverhalt verunklart und nun vielen Menschen das Gefühl gibt, „gegen die Abschaffung der Literatur“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterschreiben zu müssen.

Was nun das Gedicht angeht – auch hier geht es eher um die Frage, wo und wann Lyrik bei WDR3 gesendet wird. Ich bin Ihnen dankbar für das Beispiel  Amanda Gorman. Es war eine Steilvorlage für eine Redaktion, einen besonderen Akzent auf einem Sendeplatz zu setzen. Leider wurde am Tag der Inaugoration in WDR3 ein Gedicht über das Wetter platziert – eine weitere verpasste Chance. Die Mosaik-Redaktion möchte daher Gedichte Anlassbezogen einsetzen.

Zum Schluss werden Sie sich sicher freuen zu hören, dass die o.g. Änderungen in der Sendung „Mosaik“ nichts mit Sparmaßnahmen zu tun haben.
Ich hoffe, ich konnte diesmal einige der offenen Fragen beantworten und verbleibe
mit freundlichen Grüßen

Matthias Kremin
Programmbereichsleiter WDR3“


Nachtrag:

Zu einer Diskussion über das Thema „Und wie sieht die Zukunft der Literaturkritik und -vermittlung aus?“ hatte das Kölner Literaturhaus für den 23. Februar eingeladen.
Es diskutieren die Literaturkritikerin Insa Wilke, Initiatorin der Petition gegen die Streichung von Literaturformaten im WDR, Verlegerin Kerstin Gleba, Volker Schaeffer, Leiter der aktuellen Kultur beim WDR, sowie Alf Mentzer, Leiter der Kulturredaktion beim Hessischen Rundfunk. Jenny Friedrich-Freksa, Chefredakteurin der Zeitschrift „Kulturaustausch“, moderiert.

zur Aufzeichnung der Veranstaltung geht es über diesen link:

https://dringeblieben.de/videos/die-zukunft-der-literaturkritik