„…ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.”

„Am 28sten August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte als bis diese Stunde vorübergegangen.“[1]

Mit diesen beiden Sätzen beginnt „Goethes Autobiographie … das größte historische Werk ihres Verfassers.“[2] Eine solche Behauptung, die Hans Mayer in seinem „Versuch über Goethe“ aufstellt, „mag verwunderlich erscheinen“ aber natürlich gelingt es ihm im Exkurs I des Buches im Kapitel  „Der Weg zur Geschichte“ überzeugend dazustellen, welchen Primat das Geschichtliche als Grundprinzip der Selbstdarstellung Goethes hat und wie dieser in dem Vorwort von “Dichtung und Wahrheit” darauf explizit hinweist. „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“

Spannend wäre es unter diesem Aspekt gewesen, wenn Goethe „Dichtung und Wahrheit“ fortgeschrieben hätte und auf eines der wichtigsten Ereignisse in seinem Leben, die französische Revolution und ihre Folgen eingegangen wäre. Hans Mayer konstatiert kurz und lapidar: „Goethe hat die französische Revolution nicht verstanden.“[3] In dem Kapitel seines Buches „Französische Revolution“[4] erläutert er, warum der ehemalige Stürmer und Dränger die grundlegenden in die Zukunft weisenden Veränderungen durch die französische Revolution nicht verstanden hat. „Allein er verstand den Untergang des Ancien Régime.“[5] In Texten wie dem Bürgergeneral und den Aufgeregten sehe Goethe die Revolutionäre nur als Dummköpfe oder Schurken. Auch das geplante Trauerspiel mit dem Titel Die natürliche Tochter bleibt Fragment.[6]

Der Geheimrat (Foto: HB)

Angestoßen zu der Posse Bürgergeneral wurde Goethe während seiner Teilnahme an der Campagne in Frankreich. In der Einleitung zum Bürgergeneral weißt der Herausgeber Rainer Wild ausführlich darauf hin, dass die Stücke des Bürgergenerals und Der Aufgeregten dazu dienen sollten, dem Übergreifen der französischen Revolution auf Deutschland entgegenzuwirken.[7] Hans Mayer hält für alle drei Stücke zusammenfassend fest:
„Goethes Auseinandersetzung mit der Revolution mißlingt wegen einer Begrenzung der Reflexion auf Immanenz und Negativität. Der bürgerliche Aufklärer Goethe bekommt Dialektik der Aufklärung zu spüren: das Phänomen verweigert sich einem Denken und Handeln, das lediglich auf den höfisch-bürgerlichen Kompromiss ausgeht, nicht jedoch auf Machtergreifung.“[8]

Die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution in seinen Dramen misslingt Goethe. Er ist nicht auf der Höhe der Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklung. Einen weitergehenden Versuch startet er mit zwei Beiträgen in Schillers Horen. Gleich im ersten Heft des Jahrgangs 1795 erscheint der Beginn der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.[9]Es dreht sich um die Flucht der Baronesse von C. mit Angehörigen und Verwandten über den Rhein um sich vor den Franzosen in Sicherheit zu bringen. Der Beitrag erscheint nicht unter Goethes Namen sondern anonym. Schiller ist damit einverstanden, auch wenn die neuere Forschung inzwischen konstatiert, dass es sich mit dieser Erzählung um einen Gegenentwurf zu Schiller Ästhetischen Briefen verhält.[10] Schiller hatte sich im Juni 1794 schriftlich an Goethe gewandt und ihn um Mitarbeit an den Horen gebeten. Goethe sagt zu und damit beginnt die Zusammenarbeit der beiden, die sich nicht nur in zahlreichen Begegnungen, sondern auch in einem umfangreichen Briefwechsel niederschlägt, der  vom 13. Juni 1794 bis zum April 1805 dauert.[11] In diesem Zeitraum entsteht das, was man im Nachhinein als „Weimarer Klassik“ bezeichnet hat.

Das Dichterpaar vor dem Theaterhaus (Foto: HB)

Der Anfang der Zusammenarbeit gestaltet sich aber durchaus nicht leicht. Die Ankündigung Schillers zu den Horen hatte darauf abgezielt, die politischen Zeitläufte außen vor zu lassen. Mit der Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter, die eine Erzählungssammlung ist, spart Goethe aber nicht an Ausführungen, die dem Übergreifen der französischen Revolution auf Deutschland aus seiner Sicht entgegenstanden bzw. entgegenstehen sollten. Den Höhepunkt und Schluss dieser Horen-Beiträge bildet das Märchen. Es hat mit der Revolution ebensoviel zu tun wie mit Goethes Kritik am »alten System«. Während die Einschätzung der Leserinnen und Leser zu den Unterhaltungen durchaus zwiespältig war, wurde das Märchen als Abschluß der Reihe nachdrücklich begrüßt und gewürdigt. Es gefiel laut Hans Mayer auch Schiller sehr, besonders in dem Ausdruck eines Kernsatzes, der von „dem Alten“ – einer Hauptperson im Märchen – gesprochen wird, als für die im Märchen zusammenwirkenden Personen alles verloren erscheint. Der Alte sagt: »Ob ich helfen kann, weiß ich nicht, ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.«[12]

Die Fortsetzung seiner deutschen Lösungsstrategie für die Folgen der Revolution schreibt Goethe dann mit Herrman und Dorothea[13]erschienen 1798. In der Einleitung des Herausgebers Rainer Wild heiß es dazu: Die allgemeine Bedeutung, die die Erfahrung der Revolution gewonnen hat, ist so zugleich eine Privatisierung. Gerade darin erhält das Epos die Züge der Idylle, wird zum >idyllischen Epos<.[14] In einem Interview, das Hans Bunge mit Hanns Eisler geführt hat, drückte dieser seine jahrelange Beschäftigung mit Herrmann und Dorothea aus. „Vor dem ersten Weltkrieg las ich ihn anders als danach und dann wieder nach „den großen revolutionären Vorgängen in Deutschland“ und der großen Krise des Kapitalismus und dann im Faschismus. In der Emigration las er den Roman „mit großer Begeisterung“ und nach der Rückkehr in Deutschland, nach 1954 „wieder mit neuen Erfahrungen“. In jeder historischen Situation war es für ihn ein anderes aber immer erfreuliches Lesevergnügen.[15] Auch wegen der Sprache Goethes, die sich ja im Vergleich zu früheren Werken gewandelt hat. Was danach folgt sind Die Wahlverwandtschaften, ein Buch Goethes, das bei den meisten Zeitgenossen nicht auf Gegenliebe stieß. Nach Meinung Mayers aber ein „neuer Typ des bürgerlichen Romans“ ist, „und damit die dritte große Selbstbefreiung nach Werther und Tasso.[16] Nicht zu Vergessen dazu die großartige Interpretation des Romans durch Walter Benjamin. Aber das ist ein neues Kapitel.

Heinrich Bleicher

[1] Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit, herausgegeben von Peter Sprengel, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Band 16, München, S. 13. Im Folgenden wird bei Goethezitaten die Münchener Ausgabe verwandt: JWG, Band, Seite.
[2] Hans Mayer, Goethe – Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt am Main 1973, S. 108. Im Folgenden zitiert als H.M., Ein Versuch.
[3] A.a.O., S. 38.
[4] A.a.O., S. 37ff.
[5] A.a.O., S. 38.
[6] JWG Bd. 4.1, und Natürliche Tochter, Bd. 6.1. Wer nicht im Besitz einer Goethe Werkausgabe ist, findet Texte auch auf https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/goethe.html.
[7] JWG, Bd. 4.1, S. 959—964 und S. 971-975.
[8] H.M., Ein Versuch, S. 40.
[9] JWG Bd. 4.1, S. 436-518.
[10] Siehe dazu die Einleitung in JWG, Bd. 4.1, S. 1040 – 1067.
[11] JWG, Bd. 8.1 und 8.2. Der Briefwechsel hat einen Umfang von gut 1000 Seiten im komprimierten Druck.
[12] H.M., Ein Versuch, S. 61.
[13] JWG Bd. 4.1, S. 551-629.
[14] A.a.O., S. 1081.
[15] Hanns Eisler Gespräche mit Hans Bunge in Hanns Eisler Gesammelte Werke, Band 7, Leipzig o.J., S. 115f.
[16] H.M., Ein Versuch, S. 91.