„Gesellschaftliche Unproduktivität und Wertlosigkeit des Herrentums“

„Die deutschen Klassiker sind sich einig in der ungemeinen Wertschätzung Diderots; sie stellen ihn neben die drei Heroen des französischen Zeitalters der Aufklärung, neben Voltaire, Montesquieu und Rousseau, und manchmal scheint es fast, als sei er ihrem Herzen näher als die großen drei, als empfänden sie eine Art inniger Verwandtschaft zwischen ihm und sich.“[1]

Geboren wurde Denis Diderot im Oktober 1713 und sein Todestag liegt mit dem Juli 1784 nun 240 Jahre zurück. 1955 verfasste Hans Mayer einen Aufsatz über »Diderot und seinen Roman Jacques le Fataliste« für den Band Grundpositionen der Französischen Aufklärung.[2] Später wurde dieser Aufsatz in Mayers Band Weltliteratur erneut aufgenommen[3].

Mayer führt seine Leser*innen in die Rezeptionsgeschichte von Jacques le Fataliste ein, den Diderot zwischen 1765 und 1784 verfasst hat und der erst ein Jahr nach seinem Tod 1785 erschien. Im gleichen Jahr übersetzt Friedrich Schiller einen Auszug unter dem Titel Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Aus einem Manuskript des verstorbenen Diderots gezogen für den Rheinischen Thalia. Schiller bedankte sich beim Freiherrn von Dalberg, der in Mannheim die „Originalschrift“ des Romans besaß. Der Auszug enthält die Passage mit der Rache der Madame de la Pommeraye an ihrem ungetreuen Liebhaber, eine Schlüsselpassage des Romans. Schon fünf Jahre vorher hatte Johann Wolfgang von Goethe den Roman in Melchior Grimms Literarischer Korrespondenz gelesen und in seinem Tagebuch am 3. April 1780 von seiner Wollust berichtet, die ihm diese Lektüre bereitet hatte. Diderot wurde in den Augustbriefen 1797 Gesprächsthema zwischen Schiller und Goethe.

Mayers Aufsatz ist deshalb bemerkenswert, weil er hier einmal mehr, nun am Beispiel von Jacques le Fataliste, seine Leser in das besondere Werk eines Autors einführt und zugleich dessen Tragweite anhand der Rezeption in Deutschland erläutert. Wenn zwei Größen der deutschen Literatur sich von Diderot so beeindruckt zeigen, seine Werke übersetzen, dann ist es für Mayer ein guter Anlass, sozusagen als Erklärung für die Begeisterung in Weimar, Inhalt, Struktur und Bedeutung von Jacques le Fataliste seinem Leser näherzubringen. Es ist die Prägnanz, mit der Mayer den Roman auf sechs Seiten vorstellt, die zu seiner Lektüre oder erneuten Lektüre anregt.

Der Vorwurf des Plagiats, eine Anlehnung an Laurence Sternes Tristram Shandy könne nicht verfangen, obwohl die „Schachtelform einer Erzählung“ hinsichtlich der Form beiden Werken gemeinsam sei. Und auf der inhaltlichen Ebene gebe es, so Mayer, genügend Unterschiede. Jacques soll über sein Liebesleben berichten, schiebe dies aber immer wieder auf. Auch Sterne wollte die hergebrachte Romanform durchbrechen, aber Diderot setzt noch eins drauf und erzählt von Jacques, ohne etwas Konkretes über ihn zu berichten. Jede Erwartung ist vergebens; was einen Roman kennzeichnen könnte, fehlt in Jacques le Fataliste. Also ist es ein „philosophischer Roman“. Und der Herr? „Er ist mit Entschiedenheit nichts“, erklärt Mayer. Die beiden Protagonisten gebe es nur aufgrund ihrer Unterhaltung und ihren Erlebnissen. Wer ist der Herr? Alles werde von Jacques beschlossen, findet Mayer, und Jacques sei ein Fatalist, was Diderot gar nicht ernst meine, sondern er will mit Jacques‘ Fatalismus gegen das „kirchliche Dogma einer göttlichen Weltenlenkung“ Protest einlegen. Der Herr hingegen fühle sich „frei“ und merke nicht, wie Jacques ihn steuere. Um die „gesellschaftliche Unproduktivität und Wertlosigkeit des Herrentums“, geht es in Jacques le Fataliste stellt Mayer fest und unterstreicht diese Erkenntnis: die „Lebensabhängigkeit der Herrenschicht von ihren Knechten ist hier zum ersten Mal mit allen Konsequenzen vorgetragen“ worden. Damit ist klargestellt, dass die Analyse dieses Romans in Mayers „Weltliteratur“ selbstverständlich seinen Platz hat.

Man muss daraufhin seinen Aufsatz noch einmal lesen, denn dann wird erst die Tragweite der Gespräche zwischen Schiller und Goethe über Diderot so recht deutlich. Goethe übersetzt Le neveu de Rameau von Diderot, während Schiller Diderots Auffassung zu Malern und der Malerei „als im Widerspruch zu den Geboten „reiner“ Kunstanschauung“ stehend beurteilt und nimmt damit die Diskussion zwischen Herder und Lessing wieder auf. Mayer zeigt an diesen Kontroversen die „Herausarbeitung der Kontraste zwischen deutscher und besonders französischer Literaturentwicklung, denn nur so könne „die eigentümliche Evolution unserer bürgerlichen Nationalliteratur richtig“ verstanden werden. Und es geht nicht nur um Jacques le Fataliste: Für Schiller und Goethe ist die Beschäftigung mit dem Caféhausgespräch zwischen Diderot und Rameaus Neffen mehr als eine „Nebenarbeit“: es ist ein zentrales Thema ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem der bürgerlichen Revolution.“ Hegel wird daraus für ihn wegweisende Gedanken finden, die bis Marx und Engels wirken. Kein Wunder, dass Marx später Diderot als seinen „Lieblingsschriftsteller“ bezeichnet.

Zählen wir jetzt nicht noch einmal alle Autoren auf, die Mayer in seinem Aufsatz hier nennt von Lessing bis Marx. Bleibt festzuhalten, er will über Jacques le Fataliste schreiben und verfasst eine kurzgefasste europäische Literaturgeschichte. Die heutige Bedeutung Diderots und auch die seines letzten Buches liegt für Mayer darin, dass „die einzigartige Bedeutung dieses einzigartigen Buches für die Geschichte des europäischen Romans und die großartige menschliche Freiheitsbewegung“[4] so bedeutend ist.

Heiner Wittmann

[1] Denis Diderot, Erzählungen und Gespräche mit einer Einführung von Victor Klemperer, Leipzig 1953, S. VII
[2] Grundpositionen der französischen Aufklärung. Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, herausgegeben von Professor Dr. Werner Krauss und Professor Dr. Hans Mayer, Rütten & Loening, Berlin 1955, S. 55-82
[3] Hans Mayer, Weltliteratur. Studien und Versuche, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989
[4] Grundpositionen der französischen Aufklärung, S. 82