Zum 30. Todestag von Willy Brandt am 8. Oktober 2022
Das letzte Buch Hans Mayers ist im Jahr seines Todes erschienen: »Erinnerungen an Willy Brandt«[1]. Beide waren, so heißt es im Klappentext, „linke Abweichler“. Persönlich haben sich die beiden erst 1964 in der Wohnung von Günter Grass getroffen. Doch der Lebensweg und die politische Einstellung von ihnen weisen schon in ihrer Jugend erstaunliche Parallelen auf. So vermerkt Mayer in dem Buch: „Bei späteren wirklichen Gesprächen mit ihm erlebte ich die Überraschung, daß es ihm mit mir ähnlich ergangen war. Auch er hatte von meiner Zugehörigkeit zu den Leuten um Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld gewußt. Auch er hatte Arbeiten von mir mit Interesse verfolgt.“[2]
Hans Mayer, Jahrgang 1907, und Willy Brandt, geboren 1913, gehörten in der Weimarer Zeit zu den Linken in der Sozialdemokratie. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930, erreichten die Nazis einen erdrutschartigen Sieg. Von 12 stieg ihre Stimmenzahl im Parlament auf 107 Mandate und sie wurden zweitstärkste Partei. Sowohl der gerade promovierte Jurist und „Rote Kämpfer“ Hans Mayer in Köln als auch der Gymnasiast Willy Brandt bei den Jungsozialisten in Lübeck kritisierten die Politik der SPD und verlangten eine gründliche Überprüfung der politischen Strategien und Zielsetzungen. Sie erfolgte nicht und führte zu einer linken Abspaltung von der Sozialdemokratie in die 1931 von Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz gegründeten »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD)«. Brandt ging in deren sozialistischen Jugendverband (SJV) und Mayer wurde Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Köln im Bezirk Mittelrhein. Sozialisten sind beide bis an ihr Lebensende geblieben.
Bei dem Treffen im Frühjahr 1964 in der Wohnung von Günter Grass ging es um politisch strategische Überlegungen zwischen Führungsleuten der SPD und mit der Partei respektive mit Willy Brandt sympathisierenden Schriftstellern zu einem Machtwechsel in der Bonner Republik. „Das Jahr 1964 bedeutet heute – im Rückblick – den Anfang vom Ende des Adenauer-Staates. … im Jahre 1964 wurde offensichtlich, daß der achtundachtzigjährige Bundeskanzler sich auch im Bundespräsidenten Heinrich Lübke getäuscht hatte. Denn Lübke, das sollte sich bald herausstellen, wünscht mit einer großen Mehrheit der Kanzlerpartei den Wandel.“[3] Fritz Erler, der Stellvertreter Brandts, erläuterte an jenem Abend die vorgesehene Strategie der SPD. Brandt selbst beschränkte sich auf die Gesprächsleitung. „Er saß da, trank seinen Rotwein, erteilte das Wort. Seine innere Anteilnahme schien weitgehend der Nachbarin Ingeborg Bachmann zu gelten, die wunderschön war an jenem Abend.“[4]
Ein Jahr später hielt Hans Mayer am 9. November 1965 seine Antrittsvorlesung als Professor an der Universität in Hannover unter dem Titel »Sprechen und Verstummen der Dichter«. Gegen viele Widerstände hatte er die Berufung auf den Lehrstuhl auch Willy Brandt zu verdanken und damit „seine Bestallung als deutscher Beamter auf Lebenszeit.“ Die Rede über »Sprechen und Verstummen der Dichter« wurde 1969 in einem kleine Essayband der edition Suhrkamp mit dem Buchtitel »Das Geschehen und das Schweigen« veröffentlicht.[5] Diese etwas ungewöhnliche Titelformulierung findet sich identisch wieder in den 1989 erschienen Erinnerungen von Willy Brandt.[6] In Brandts Buch wird die antithetische Formulierung Mayers zweigeteilt. „Die Überschrift »Das Geschehen« steht über Brandts Bericht zur Affäre um den Ostspion Günter Guillaume. Dann wird der Hergang berichtet, der zur Demission Brandts vom Amt des deutschen Bundeskanzlers führen sollte. Überschrift des Erinnernden »Das Schweigen«.[7] Die Erinnerungen Brandts sind allerdings mariginal, was die wirklichen Gründe und Diskussionen in der SPD und der damaligen Koalition mit den Freien Demokraten anbetrifft. Eine der besten Schilderungen und historischen Einschätzungen findet sich in dem hervorragenden Dokudrama Heinrich Breloers »Wehner – Die unerzählte Geschichte. Die Nacht von Münstereifel«.
In dem Kapitel »Im Dickicht der Städte« seines Brandt-Buches geht Hans Mayer auf den Fall Guillaume ein. „Vielleicht ist die Lösung so vieler unklar gehaltener und gebliebener Fragen dadurch zu erklären, daß zur Zeit des Fall Guillaume nicht nur, wie verständlich, christlich-demokratische Politiker entschlossen waren, die Macht zurückzugewinnen, sondern auch ein tiefer Konflikt zwischen Herbert Wehner und Willy Brandt entstanden war. Es ging um eine Grundfrage künftiger deutscher Politik. Willy Brandt verstand die Aussichten bundesdeutscher Politik als »Wandel durch Annäherung«. Er wünschte eine positive und friedliche Koexistenz der beiden deutschen Staaten…. War Wehner … ein entschiedener Gegner eines weitgehenden Wandels durch Annäherung zwischen BRD und DDR? So scheint es der späte Willy Brandt gesehen zu haben.“[8] Diese Sichtweise teilt auch Hans Mayer, wie in dem Kapitel über Herbert Wehner deutlich wird.
Schon als Außenminister in der Regierung Kiesinger hatte Willy Brandt seine zukünftige Ostpolitik vorbereitet. Ein in den gängigen Publikationen oder Kommentaren wenig genanntes Ereignis war eine Tagung zur »Exil-Literatur 1933-1945« vom 17.-19. Januar 1968 in Luxemburg. Dort trafen sich Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, die aus politischen Gründen 1933 bis 1945 im Exil leben mussten. Die Schirmherrschaft hatten Pierre Grégoire, Außen- und Kultusminister von Luxemburg und Willy Brandt als Außenminister der BRD. In seiner Begrüßung stellte er fest: „Unsere auswärtige Politik ist am Generalnenner der Friedenssicherung orientiert. Deshalb sagen wir illusionslos ja zur Entspannung und stellen dafür keine Vorbedingungen. Wir haben erkannt: nur durch eine europäische Friedensordnung kann die Spaltung und Schwächung unseres Kontinents überwunden werden. Nur so werden auch die beiden Teile Deutschlands wieder zueinander finden können. In dieser Überzeugung bleiben wir bei dem, was einige von uns schon vor 1945 sagten, als wir gegen ein »deutsches Europa«, aber für ein »europäisches Deutschland« eintraten.“[9] Der luxemburgische Außenminister, der fünf Jahre im KZ verbracht hatte, begrüßte die zahlreichen Gäste zu denen auch Golo Mann, als Vortragender, sowie Walter Fabian, Max Horkheimer und viele andere gehörten.Horkheimer, Richard Friedenthal und viele andere gehörten. Er stellte deutlich die Bedeutung des Widerstandes und die Leistung der deutschen Menschen im Exil heraus. Hans Mayer, der einen umfangreichen Vortrag über Thomas Mann, u.a. als die Stimme der deutschen Kultur im Exil hielt, fasst in seinem Willy Brandt-Buch zusammen: „Mit Recht erkannte der neue Außenminister, daß zum Zerstäuben ideologischer Residuen vor allem auch eine neue und deutliche Abgrenzung von den Untaten des Dritten Reiches gehörte. Willy Brandt selbst war als Emigrant aus Norwegen in die ersehnte deutsche Freiheit zurückgekehrt. Man hat es ihm nicht gedankt: er habe »gegen uns gekämpft in der Stunde unserer Not«. Nun sollte ein Emigrant von einst die deutsche Außenpolitik verantworten. Es war, gerade weil weite Teile der Bevölkerung Vergesslichkeit vortäuschten, vor allem wichtig, klar über die deutsche Politik seit 1933 zu sprechen. Also auch über das Widerstandsrecht. Auch über politisches Dissidententum. Nicht zuletzt über einen demokratischen Alltag in der Bundesrepublik Deutschland. … damals in Luxemburg durfte man, im Grunde zum ersten Mal nach den lange zurückliegenden frühen Nachkriegsjahren, von neuem Hoffnung schöpfen: in beiden deutschen Staaten. Die Achtundsechziger in der Bundesrepublik Deutschland machten deutlich, daß Schluss sein müsse mit dem Verschweigen und Verdrängen und den Redensarten wie »in jenen schrecklichen Jahren…«.[10]
In seinen Erinnerungen stellt Brandt fest, dass er die Studentenrevolte aufmerksam beobachtet habe, auch außerhalb der deutschen Grenzen. Er hält fest, daß sein Rat an die Regierung und auch an die Partei der er angehörte, war, der kritischen Jugend gut zuzuhören. Doch selbstkritisch stellt er fest: „… was die junge Generation, und zwar nicht ihren schlechtesten Teil, umtrieb, hab ich nicht gut genug verstanden, vielleicht auch nicht verstehen wollen; abgestandener Wortradikalismus machte den Zugang schwer.“[11] Sein großer Verdienst aber ist tatsächlich das, was er im Schlußsatz seiner Erinnerungen festhält: „Mitgetan zu haben, daß der deutsche Name, der Begriff des Friedens und die Aussicht auf europäische Freiheit zusammengedacht werden, ist die eigentliche Genugtuung meines Lebens.“[12]
Heinrich Bleicher
[1] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, Frankfurt am Main 2001
[2] A.a.O., S.30f
[3] A.a.O., S.32-34
[4] A.a.O., S.36
[5] Hans Mayer, Das Geschehen und das Schweigen, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34
[6] Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, Seite 315-341
[7] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, S. 49
[8] A.a.O., S. 53f
[9] Exil-Literatur 1933-1945, Inter Nationes Bad Godesberg 1968, S. 8
[10] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, S. 41-45
[11] Willy Brandt, Erinnerungen, S. 274
[12] A.a.O., S. 500.